Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. »I’m a frequent reader of German and Austrian literature«, bekannte die Frau, der ich im Frühjahr 2023 an der Bücherauslage in einem Museums-Shop in Manhattan begegnete.
Sie sprach mich auf die deutsche Ausgabe von Joseph Roths Radetzkymarsch an, die ich gerade in den Händen hielt. Die Frau selbst blätterte in der englischen Ausgabe und erzählte von ihrer neuerlichen Lektüre von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz: »I got through it.« Als ich berichtete, ich sei in einer extrem realistisch erzählten Schlachthausszene ausgestiegen, beschwor sie mich: »You should try again!«
Es war eine magische Begegnung. Wirklich überraschend war sie an diesem Ort aber nicht: Die »Neue Galerie«, ein von Serge Sabarsky und Ronald Lauder konzipiertes Privatmuseum für deutsche und österreichische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, kultiviert die nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen Welt der jüdischen Großbürger, Literaten und Künstler in den deutschsprachigen Metropolen.
Cappuccino aus dem Vollautomaten
Auch wenn sich die Melange in dem einem Wiener Kaffeehaus nachempfundenen Museumscafé als Cappuccino aus dem Vollautomaten entpuppte: Sogar 80 Jahre nach der Schoa übt die deutschsprachige Literatur eine bemerkenswerte Anziehung auf Menschen aus, deren Vorfahren vor der Nazi-Barbarei fliehen mussten.
Die Liebe zur Literatur ist offenbar stärker als der berechtigte Hass auf das mörderische Regime und seine willigen Vollstrecker. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich in meinem Buchregal auf die russische Originalausgabe von Fjodor Dostojewskis Der Spieler stoße.
Diesen Roman las ich im langen Pandemiewinter 2021. Es war meine erste russische Klassikerlektüre seit Jahren, und ich nahm mir fest vor, die Literaturschätze in meiner Muttersprache nicht länger zu vernachlässigen. Doch dann kam der 24. Februar 2022. Mit dem vollumfänglichen russischen Überfall auf die Ukraine wurde Russisch endgültig zu einer Sprache der Aggression, Besatzung und Hasspropaganda.
Zeitweise schämte ich mich regelrecht, meine Muttersprache in der Öffentlichkeit zu benutzen
Zeitweise schämte ich mich regelrecht, meine Muttersprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Bis heute halte ich mich damit zurück. Und auch der Gogol-Band, den ich eigentlich als Nächstes lesen wollte, staubt nun seit über zwei Jahren vor sich hin. Dabei wollte ich die russische Sprache nicht den Putins, Lawrows und Medwedjews dieser Welt überlassen!
Ähnlich muss es auch den deutschsprachigen Juden ergangen sein, die in den 30er-Jahren Europa entkommen konnten. Sprachen sie nur noch leise Deutsch, wenn sie sich in Rechavia, Tel Aviv oder Washington Heights trafen? Wie sehr schmerzte es sie, dass die Sprache von Goethe, Schiller und Heine nur noch mit antisemitischem Propagandagebrüll assoziiert werden konnte? Und: Wie lange dauert es, bis eine toxisch gewordene Sprache wieder als unschuldig gilt?
Bevor ich also wieder ohne Gewissensbisse zu Nikolaj Gogol greifen kann, sollte ich an meine magische Begegnung in Manhattan denken. Berlin Alexanderplatz liegt jetzt jedenfalls auf meinem Lektürestapel.