Kulturkolumne

Gogol oder Döblin?

Warum die Liebe zur Literatur stärker ist als Hass auf ein Regime

von Eugen El  20.01.2025 18:17 Uhr

Warum die Liebe zur Literatur stärker ist als Hass auf ein Regime

von Eugen El  20.01.2025 18:17 Uhr

Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. »I’m a frequent reader of German and Austrian literature«, bekannte die Frau, der ich im Frühjahr 2023 an der Bücherauslage in einem Museums-Shop in Manhattan begegnete.

Sie sprach mich auf die deutsche Ausgabe von Joseph Roths Radetzkymarsch an, die ich gerade in den Händen hielt. Die Frau selbst blätterte in der englischen Ausgabe und erzählte von ihrer neuerlichen Lektüre von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz: »I got through it.« Als ich berichtete, ich sei in einer extrem realistisch erzählten Schlachthausszene ausgestiegen, beschwor sie mich: »You should try again!«

Es war eine magische Begegnung. Wirklich überraschend war sie an diesem Ort aber nicht: Die »Neue Galerie«, ein von Serge Sabarsky und Ronald Lauder konzipiertes Privatmuseum für deutsche und österreichische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, kultiviert die nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen Welt der jüdischen Großbürger, Literaten und Künstler in den deutschsprachigen Metropolen.

Cappuccino aus dem Vollautomaten

Auch wenn sich die Melange in dem einem Wiener Kaffeehaus nachempfundenen Museumscafé als Cappuccino aus dem Vollautomaten entpuppte: Sogar 80 Jahre nach der Schoa übt die deutschsprachige Literatur eine bemerkenswerte Anziehung auf Menschen aus, deren Vorfahren vor der Nazi-Barbarei fliehen mussten.

Die Liebe zur Literatur ist offenbar stärker als der berechtigte Hass auf das mörderische Regime und seine willigen Vollstrecker. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich in meinem Buchregal auf die russische Originalausgabe von Fjodor Dostojewskis Der Spieler stoße.

Diesen Roman las ich im langen Pandemiewinter 2021. Es war meine erste russische Klassikerlektüre seit Jahren, und ich nahm mir fest vor, die Literaturschätze in meiner Muttersprache nicht länger zu vernachlässigen. Doch dann kam der 24. Februar 2022. Mit dem vollumfänglichen russischen Überfall auf die Ukraine wurde Russisch endgültig zu einer Sprache der Aggression, Besatzung und Hasspropaganda.

Zeitweise schämte ich mich regelrecht, meine Muttersprache in der Öffentlichkeit zu benutzen

Zeitweise schämte ich mich regelrecht, meine Muttersprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Bis heute halte ich mich damit zurück. Und auch der Gogol-Band, den ich eigentlich als Nächstes lesen wollte, staubt nun seit über zwei Jahren vor sich hin. Dabei wollte ich die russische Sprache nicht den Putins, Lawrows und Medwedjews dieser Welt überlassen!

Ähnlich muss es auch den deutschsprachigen Juden ergangen sein, die in den 30er-Jahren Europa entkommen konnten. Sprachen sie nur noch leise Deutsch, wenn sie sich in Rechavia, Tel Aviv oder Washington Heights trafen? Wie sehr schmerzte es sie, dass die Sprache von Goethe, Schiller und Heine nur noch mit antisemitischem Propagandagebrüll assoziiert werden konnte? Und: Wie lange dauert es, bis eine toxisch gewordene Sprache wieder als unschuldig gilt?

Bevor ich also wieder ohne Gewissensbisse zu Nikolaj Gogol greifen kann, sollte ich an meine magische Begegnung in Manhattan denken. Berlin Alexanderplatz liegt jetzt jedenfalls auf meinem Lektürestapel.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

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Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

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NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

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Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025