Was ist das nur? Ein Fehler von Setzer und Drucker, der niemandem aufgefallen ist? Denn schlägt man das Buch des Florentiners Stefano Massini auf, schließt man es gleich wieder. Und kontrolliert Schutzumschlag und Titelseite, nachhaltig irritiert. Und dann schlägt man es wieder auf – und denkt kurz: Ein Roman ist ein Ding, in dem Tausende von Sätzen lückenlos Seite um Seite füllen. Also: Was ist nun das hier? Ein Langgedicht? Denn so sieht es aus. Ein mehrtausendzeiliges Epos? So sieht es aus. Was ist das nur?
Die Originalausgabe verrät es mehr als der deutsche Titelzusatz »Ein Roman«. Bei diesem fällt zwar der unbestimmte Artikel auf, aber in der Mondadori-Ausgabe hieß es »romanzo/ballata«, Roman/Ballade.
In Italien für seine Arbeiten fürs Theater bekannt geworden – ab 2015 war der Tony-Award-Preisträger Stefano Massini fünf Jahre lang künstlerischer Berater des Piccolo Teatro di Milano, vor zwei Jahren erschien sein in diesem Jahr uraufgeführtes Stück Eichmann. Dove inizia la notte (Deutsch: Wenn die Nacht einsetzt, Untertitel: Ein Dialog zwischen Hannah Arendt und Adolf Eichmann) –, schrieb er erst ein Stück über die Lehman Brothers, das 2015 in Mailand uraufgeführt wurde.
Und erarbeitete daraus dann »quasi una ballata«, die ein Jahr später in Italien veröffentlicht wurde. Er bekam dafür fast ein halbes Dutzend wichtige Preise. 2018 wurden ihm für die französische Ausgabe zwei große Pariser Literaturpreise zuerkannt. Da fragt man sich: Wieso hat der deutsche Verlag so lange gebraucht?
MORITAT Die literarische Lösung Massinis, des erfahrenen Dramaturgen, des noch erfahreneren Regisseurs und klugen Theatermachers, ist stupend – und zugleich mitreißend. Es ist tatsächlich so etwas wie eine Ballade, eine polyphone Moritat von Einwanderung, von Glück und Unglück, gnadenlos harter Arbeit und äußerst scharfsichtigem Erkennen immer neuer Geschäfts- und Finanzierungsfelder und final von Gier und vom Untergang.
Ab dem 15. September 2008, dem Tag der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers und der Nicht-Rettung, sah man Angestellte mit Pappkartons aus Bürohochhäusern in Manhattan strömen. Es war der Auftakt der weltweiten Finanz- und Bankenkrise. Die sich keiner der drei Gründer hätte vorstellen können, die einst von Rimpar, einem Ort nördlich von Würzburg in Mainfranken, aufgebrochen waren: Weder Hayum »Henry« Lehmann, der anno 1844 im Alter von 22 Jahren nach Montgomery, Alabama, emigriert war, noch seine Brüder Emanuel und Mayer, die ihm folgten.
Massini erzählt in raffiniert elliptischen Sprüngen – es werden Jahre ausgelassen, historische Ereignisse nur skizziert, später ganze Dekaden übersprungen –, wie sich über 160 Jahre hinweg aus einem winzigen Warenladen im tiefen Süden der USA ein Zwischenhändlergeschäft für Baumwolle entwickelte, dann für Kohle, für Gas, für Erdöl, dann eine national aktive Bank, die schließlich ein globales Finanz- und Investment-Unternehmen wurde. Generationen lang, ab der Übersiedlung nach New York, in direkter Konkurrenz zu den ebenfalls mit nahezu nichts in die USA ausgewanderten jüdischen Familien Goldman und Sachs, die ebenfalls beide aus Franken stammten.
Man sah Angestellte mit Pappkartons aus Bürohochhäusern in Manhattan strömen.
Massini, der in dem vor zwei Jahren auf Deutsch erschienenen, ausnehmend schön gestalteten Band Das Buch der fehlenden Wörter eine Fülle von wundersamen und allesamt wahren Geschichten darbot, die wie geträumt anmuteten, findet auch in Die Lehman Brothers einen aufregenden Weg, Generation um Generation lebendig werden zu lassen, mit wenigen Worten Charaktertiefe zu erzielen, in knappen Sätzen Atmosphärisches zu entwerfen.
So, dass man sehr rasch den Eindruck hat, eine Tiefenschilderung von Psychen und Motiven, von Verhaltensweisen, Affinitäten und familiären Grunddifferenzen muss unausweichlich minuziöse Erinnerungsprosa à la Marcel Proust sein oder Hyperrealismus im Sinne von Émile Zola. Oder detailverliebt wie Victor Hugo, realistisch-satirisch wie William Thackeray.
ALGORITHMEN Lässt man sich auf Massinis graziös intelligente, in drei Großkapitel unterteilte Ballade in unaufdringlich rhythmisierter Prosa ein, so realisiert man: Gerade diese Zugänglichkeit ermöglicht eine labyrinthische Vielzahl an Möglichkeiten, die der Autor gegen Ende immer genüsslicher – und auch avantgardistisch forcierter – ausschöpft.
Da gibt es innere Monologe und schwebende Dialoge. Da gibt es Seiten, in denen er ein Gespräch überwuchern lässt von den Algorithmenreihen der Computer und des Hochfrequenz-Aktienhandels – wir sind im Zeitalter angekommen, als Lehman Brothers Nerds finanziert, die sich in den Kopf gesetzt haben, elektronische Rechenmaschinen, die bis dahin fast so groß wie ein Zimmer waren, schrumpfen zu lassen und für jedermann bedienbar zu machen.
Dem literarisch nicht selten behäbigen Genre des Familienromans gibt der Florentiner mit diesem luzid unterhaltsamen Band, der sich so erstaunlich rasant wie gut liest, auch dank gelungener Übersetzung, einen hochoriginellen Dreh.
Stefano Massini: »Die Lehman Brothers. Ein Roman«. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser, München 2022, 848 S., 34 €