Roman

Glück, Gier, Untergang

Begleitet von Protesten: der damalige Lehman-Chef Richard Fuld 2008 nach der Insolvenz der Investment-Bank vor seiner Anhörung im Kongress Foto: Reuters

Was ist das nur? Ein Fehler von Setzer und Drucker, der niemandem aufgefallen ist? Denn schlägt man das Buch des Florentiners Stefano Massini auf, schließt man es gleich wieder. Und kontrolliert Schutzumschlag und Titelseite, nachhaltig irritiert. Und dann schlägt man es wieder auf – und denkt kurz: Ein Roman ist ein Ding, in dem Tausende von Sätzen lückenlos Seite um Seite füllen. Also: Was ist nun das hier? Ein Lang­gedicht? Denn so sieht es aus. Ein mehrtausendzeiliges Epos? So sieht es aus. Was ist das nur?

Die Originalausgabe verrät es mehr als der deutsche Titelzusatz »Ein Roman«. Bei diesem fällt zwar der unbestimmte Artikel auf, aber in der Mondadori-Ausgabe hieß es »romanzo/ballata«, Roman/Ballade.
In Italien für seine Arbeiten fürs Theater bekannt geworden – ab 2015 war der Tony-Award-Preisträger Stefano Massini fünf Jahre lang künstlerischer Berater des Piccolo Teatro di Milano, vor zwei Jahren erschien sein in diesem Jahr uraufgeführtes Stück Eichmann. Dove inizia la notte (Deutsch: Wenn die Nacht einsetzt, Untertitel: Ein Dialog zwischen Hannah Arendt und Adolf Eichmann) –, schrieb er erst ein Stück über die Lehman Brothers, das 2015 in Mailand uraufgeführt wurde.

Und erarbeitete daraus dann »quasi una ballata«, die ein Jahr später in Italien veröffentlicht wurde. Er bekam dafür fast ein halbes Dutzend wichtige Preise. 2018 wurden ihm für die französische Ausgabe zwei große Pariser Literaturpreise zuerkannt. Da fragt man sich: Wieso hat der deutsche Verlag so lange gebraucht?

MORITAT Die literarische Lösung Massinis, des erfahrenen Dramaturgen, des noch erfahreneren Regisseurs und klugen Theatermachers, ist stupend – und zugleich mitreißend. Es ist tatsächlich so etwas wie eine Ballade, eine polyphone Moritat von Einwanderung, von Glück und Unglück, gnadenlos harter Arbeit und äußerst scharfsichtigem Erkennen immer neuer Geschäfts- und Finanzierungsfelder und final von Gier und vom Untergang.

Ab dem 15. September 2008, dem Tag der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers und der Nicht-Rettung, sah man Angestellte mit Pappkartons aus Büro­hochhäusern in Manhattan strömen. Es war der Auftakt der weltweiten Finanz- und Bankenkrise. Die sich keiner der drei Gründer hätte vorstellen können, die einst von Rimpar, einem Ort nördlich von Würzburg in Mainfranken, aufgebrochen waren: Weder Hayum »Henry« Lehmann, der anno 1844 im Alter von 22 Jahren nach Montgomery, Alabama, emigriert war, noch seine Brüder Emanuel und Mayer, die ihm folgten.

Massini erzählt in raffiniert elliptischen Sprüngen – es werden Jahre ausgelassen, historische Ereignisse nur skizziert, später ganze Dekaden übersprungen –, wie sich über 160 Jahre hinweg aus einem winzigen Warenladen im tiefen Süden der USA ein Zwischenhändlergeschäft für Baumwolle entwickelte, dann für Kohle, für Gas, für Erdöl, dann eine national aktive Bank, die schließlich ein globales Finanz- und Investment-Unternehmen wurde. Generationen lang, ab der Übersiedlung nach New York, in direkter Konkurrenz zu den ebenfalls mit nahezu nichts in die USA ausgewanderten jüdischen Familien Goldman und Sachs, die ebenfalls beide aus Franken stammten.

Man sah Angestellte mit Pappkartons aus Bürohochhäusern in Manhattan strömen.

Massini, der in dem vor zwei Jahren auf Deutsch erschienenen, ausnehmend schön gestalteten Band Das Buch der fehlenden Wörter eine Fülle von wundersamen und allesamt wahren Geschichten darbot, die wie geträumt anmuteten, findet auch in Die Lehman Brothers einen aufregenden Weg, Generation um Generation lebendig werden zu lassen, mit wenigen Worten Charaktertiefe zu erzielen, in knappen Sätzen Atmosphärisches zu entwerfen.

So, dass man sehr rasch den Eindruck hat, eine Tiefenschilderung von Psychen und Motiven, von Verhaltensweisen, Affinitäten und familiären Grunddifferenzen muss unausweichlich minuziöse Erinnerungsprosa à la Marcel Proust sein oder Hyperrealismus im Sinne von Émile Zola. Oder detailverliebt wie Victor Hugo, realistisch-satirisch wie William Thackeray.

ALGORITHMEN Lässt man sich auf Massinis graziös intelligente, in drei Großkapitel unterteilte Ballade in unaufdringlich rhythmisierter Prosa ein, so realisiert man: Gerade diese Zugänglichkeit ermöglicht eine labyrinthische Vielzahl an Möglichkeiten, die der Autor gegen Ende immer genüsslicher – und auch avantgardistisch forcierter – ausschöpft.

Da gibt es innere Monologe und schwebende Dialoge. Da gibt es Seiten, in denen er ein Gespräch überwuchern lässt von den Algorithmenreihen der Computer und des Hochfrequenz-Aktienhandels – wir sind im Zeitalter angekommen, als Lehman Brothers Nerds finanziert, die sich in den Kopf gesetzt haben, elektronische Rechenmaschinen, die bis dahin fast so groß wie ein Zimmer waren, schrumpfen zu lassen und für jedermann bedienbar zu machen.

Dem literarisch nicht selten behäbigen Genre des Familienromans gibt der Florentiner mit diesem luzid unterhaltsamen Band, der sich so erstaunlich rasant wie gut liest, auch dank gelungener Übersetzung, einen hochoriginellen Dreh.

Stefano Massini: »Die Lehman Bro­thers. Ein Roman«. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser, München 2022, 848 S., 34 €

Antisemitismus

Gert Rosenthal: »Würde nicht mit Kippa durch Neukölln laufen«

Die Bedrohung durch Antisemitismus belastet viele Jüdinnen und Juden. Auch Gert Rosenthal sieht die Situation kritisch - und erläutert, welche Rolle sein Vater, der Entertainer Hans Rosenthal, heute spielen würde

 01.04.2025

Berlin

Hans Rosenthal entdeckte Show-Ideen in Fabriken

Zum 100. Geburtstag des jüdischen Entertainers erzählen seine Kinder über die Pläne, die er vor seinem Tod noch hatte. Ein »Dalli Dalli«-Nachfolger lag schon in der Schublade

von Christof Bock  01.04.2025

Künstliches Comeback

Deutschlandfunk lässt Hans Rosenthal wiederaufleben

Der Moderator ist bereits 1987 verstorben, doch nun soll seine Stimme wieder im Radio erklingen – dank KI

 01.04.2025

Interview

Günther Jauch: »Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit«

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  01.04.2025

Jubiläum

Immer auf dem Sprung

Der Mann flitzte förmlich zu schmissigen Big-Band-Klängen auf die Bühne. »Tempo ist unsere Devise«, so Hans Rosenthal bei der Premiere von »Dalli Dalli«. Das TV-Ratespiel bleibt nicht sein einziges Vermächtnis

von Joachim Heinz  01.04.2025

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  01.04.2025

Geschichte

»Der ist auch a Jid«

Vor 54 Jahren lief Hans Rosenthals »Dalli Dalli« zum ersten Mal im Fernsehen. Unser Autor erinnert sich daran, wie wichtig die Sendung für die junge Bundesrepublik und deutsche Juden war

von Lorenz S. Beckhardt  01.04.2025 Aktualisiert

Hans Rosenthal

»Zunächst wurde er von den Deutschen verfolgt - dann bejubelt«

Er überlebte den Holocaust als versteckter Jude, als Quizmaster liebte ihn Deutschland: Hans Rosenthal. Seine Kinder sprechen über sein Vermächtnis und die Erinnerung an ihren Vater

von Katharina Zeckau  01.04.2025

TV-Spielfilm

ARD dreht prominent besetztes Dokudrama zu Nürnberger Prozessen

Nazi-Kriegsverbrecher und Holocaust-Überlebende in einem weltbewegenden Prozess: Zum 80. Jahrestag dreht die ARD ein Drama über die Nürnberger Prozesse - aus der Sicht zweier junger Überlebender

 01.04.2025