Wer Daniel Barenboim verstehen will, kommt an Spinoza nicht vorbei. Ohne den niederländischen Philosophen wäre weder das West-Eastern Divan Orchestra möglich, noch die jüngste Idee des Dirigenten, Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober mit der Berliner Staatskapelle nach Teheran zu begleiten.
Für derartige Brückenschläge wird Barenboim scharf kritisiert. Israels Kulturministerin Miri Regev ließ wissen: »Barenboim verfolgt eine anti-israelische Linie und schwärzt Israel bei jeder Gelegenheit an.« Inzwischen hat Teheran das Konzert abgesagt. Einen Israeli lasse man nicht auftreten, erklärte der iranische Kulturminister. Wer Barenboim dieser Tage in Deutschland erleben will: Am 3. September wird er das Musikfest Berlin eröffnen. Auch dort geht es um jüdische Identitäten.
LEktüre Aber von vorne: Es war Barenboims Vater, der dem Jungen riet, Spinozas Ethik zu lesen. Die Lektüre war nachhaltig. »Spinoza erklärt das Recht des absolut freien Gedankens zur obersten Maxime«, erklärt Barenboim, »und mit seiner Ethik im Kopf könnte Israel sich in jenen demokratischen Staat verwandeln, in dem jeder Teil der Gesellschaft seine ethischen Werte zum Wohle der Menschlichkeit definieren kann.«
Spinozas Gedanke der Logik und der Freiheit fasziniert den Dirigenten. Für ihn ist das die einzige Grundlage, auf der ein Staat stehen sollte. »Aber schon bei Spinoza führten die Überlegungen dazu, dass er aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde«, sagt Barenboim und behauptet: »So gesehen war er ein Opfer des Antisemitismus.«
Lange nachdem ihn sein Vater zu Spinoza führte, fand Barenboim in Otto Klemperer einen Gleichgesinnten. Der Dirigenten-Kollege hielt die Ethik für »das wichtigste Buch, das je geschrieben wurde«. Klemperer war mit 22 Jahren zum Christentum übergetreten, weil er glaubte, nur ein Christ könne Bachs Matthäus-Passion dirigieren. Erst viele Jahre später, im hohen Alter, kehrte er zum Judentum zurück. »Und wissen Sie, was er mir als Grund dafür nannte?«, fragt Barenboim und gibt die Antwort selbst: »Spinoza!«
konversion Diese kleine Vorgeschichte ist hilfreich, um das Programm des Musikfests Berlin zu verstehen, das zum 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel zahlreiche Grundfragen aufwirft.
Im Vordergrund stehen Arnold Schönberg und Gustav Mahler. Beide teilen das Schicksal Klemperers: Mahler konvertierte bereits 1897 zum Katholizismus. »Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater«, schrieb er damals. »Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen. Überall bläst der gleiche Wind.«
Was Mahler nicht ahnte: Auch der Wechsel seiner Religion schützte ihn nicht vor antisemitischen Demütigungen. Noch enger mit Klemperer verbunden ist der Weg Arnold Schönbergs. Er konvertierte 1898 zum Protestantismus, kehrte aber 1933 bewusst in die jüdische Gemeinde zurück.
Mit Verklärte Nacht werden Barenboim und die Staatskapelle eines der ersten Meisterwerke aufführen, das Schönberg als Protestant schrieb. Die Rückkehr zum Judentum lassen dann das Deutsche Symphonieorchester Berlin und Ingo Metzmacher hören, wenn sie Schönbergs Jakobsleiter aufführen. Es ist ein opulentes Werk, das der Komponist nicht vollenden konnte, das für ihn aber eine »Vereinigung nüchtern skeptischen Realitätsbewusstseins mit dem Glauben« ausdrückte.
Wandlungen Das Musikfest Berlin beleuchtet unterschiedliche Wandlungen der Religion und verschiedene Formen der Dialogbereitschaft. So wird neben Barenboim auch der Dirigent Zubin Mehta mit seinem Israel Philharmonic Orchestra kommen. Das Ensemble wurde 1936 gegründet. 1968 wurde der in Bombay geborene Parse Mehta Chefdirigent. Er bewog das Orchester, 1971 erstmals zu einem Gastspiel nach Deutschland zu fahren. Damals eröffneten die Musiker die Berliner Festwochen.
»Mich besorgt Israels globale Isolation«, sagte Mehta kürzlich, »sie passiert von Tag zu Tag. Ich glaube, Israel hat Europa bereits verloren, jetzt droht es auch, Amerika zu verlieren.« In einem Interview mahnte er: »Ich habe in den Zeitungen über die abnehmende Solidarität mit Israel in den USA gelesen. Demnach unterstützt die Hälfte der Amerikaner Israel nicht mehr. Das war einmal anders.«
Der Dirigent Michael Tilson Thomas hat seine Herkunft lange verschleiert. Er wurde eigentlich unter dem Namen Thomashefsky geboren. Seine Eltern, Bessie und Boris, bauten das jiddische Theater in Manhattan auf. Inzwischen ist der Musiker, der übrigens bei Leonard Bernstein lernte, mit seiner Vergangenheit versöhnt.
sozialkritisch »In meiner Jugend bin ich mit den Leuten aufgewachsen, die mit dem jiddischen Theater zu tun hatten«, sagt er, »das war eine Zeit der großen Abenteuer und vieler sozialer Aktivitäten. Immer ging es um Stücke mit sozialer Bedeutung wie etwa Porgy and Bess.« Am 4. September wird er mit dem San Francisco Symphony Orchestra neben John Adams Absolute Jest und Beethovens Eroica auch Schönbergs Variationen op. 43b aufführen.
Das Musikfest Berlin stellt viele latente Fragen des Jüdischseins, und seine Gäste geben sowohl in ihren persönlichen Lebensläufen als auch in ihren tagespolitischen Einschätzungen und in ihren musikalischen Interpretationen ganz unterschiedliche Antworten. Barenboim, Mehta und Tilson Thomas werden Position beziehen zu den großen Protagonisten der Musikgeschichte, Mahler und Schönberg, und zu ihren individuellen Wegen und Glaubenskrisen.
www.berlinerfestspiele.de