Frau Cavallo, was ist ein »Rebel Girl«?
Ich definiere es immer so: Ein Rebel Girl ist ein Mädchen, das seine Leidenschaft annimmt und in der Lage ist, sein eigenes Leben zu führen und den gesellschaftlichen Erwartungen zu trotzen. Ganz gleich, ob es sich um junge Frauen oder Mädchen handelt: Grenzen begegnen ihnen immer wieder. Diese zu erkennen, das ist wohl das Schwierigste. Aber wenn man weiß, wie sie aussehen, wird es leichter, sie zu überwinden und über sie hinauszuwachsen.
Wann haben Sie diese Grenzen zu spüren bekommen?
Das ist schwer zu sagen. Es gibt eigentlich nicht den einen Moment, vielmehr sind es Situationen, an die ich mich erinnere. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, nahm mich mein Vater, der, Gott sei Dank, sehr kreativ und zugegebenermaßen auch ein wenig verschroben ist, mit zum Friseur und ließ mir die Haare abschneiden. Mir gefiel es, aber die Reaktionen in meinem Umfeld waren alle ganz schrecklich. So schönes lockiges Haar schneidet man doch nicht ab, hieß es. Das hat mich ziemlich lange verfolgt. Und tut es immer noch: In einem Fitnessstudio in Kalifornien kam jemand auf mich zu und fragte mich, warum ich denn meine Haare so kurz trage. Also, Sie sehen: Es gibt bei Frauen immer Kommentare über ihr Aussehen. Es sind diese Mikroaggressionen, die, wenn man sie einzeln für sich nimmt, nichts bedeuten, aber die Masse macht es.
Was halten Sie von dem Ausdruck »Girl Power«?
Für mich klingt Girl Power cool. Damit einher geht auch die moralische Führungsqualität von Kindern, ein Phänomen, dem wir in den vergangenen drei bis fünf Jahren begegnet sind. Vor Malala Yousafzai oder Greta Thunberg war es doch kaum vorstellbar, dass ein Kind in diesem Umfang seine Meinung äußern und die Agenda von Regierungen beeinflussen konnte. Wenn ich also an Girl Power denke, dann denke ich auch daran und wie wichtig es ist, dass es ein Teil der Popkultur wird, um jungen Mädchen zu zeigen, dass sie eine Stimme haben.
Von den »Good Night Stories for Rebel Girls« gibt es mittlerweile zwei Bände. Sie erzählen darin die Lebensgeschichten von Schriftstellerinnen, Physikerinnen oder Künstlerinnen. Was hat Sie an diesem Projekt interessiert?
Mir war es vor allem auch wichtig, gemeinsam mit meiner Ko-Autorin Elena Favilli eben nicht nur die Geschichten der bekannten Frauen aufzuschreiben. Viele meiner Leser schreiben mir, dass sie von einigen der Frauen zum ersten Mal gelesen hätten – trotz ihrer nachhaltigen Bedeutung. Geschichtsbücher und Zeitungen haben sie schlicht nicht beachtet.
Mit welchen Geschichten sind Sie selbst aufgewachsen?
Die Protagonisten waren immer männlich. Im Übrigen war es für mich deswegen so wichtig, das Buch zu schreiben. Denn als ich aufwuchs, gab es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht eine Philosophin. Die Schriftstellerinnen konnte ich an einer Hand abzählen. Meine Schule und auch das mediale Umfeld wollten mir also klarmachen, dass die Welt von Männern – und ausschließlich Männern – geschaffen wurde. Frauen in Geschichten waren, wenn es hochkam, Krankenschwestern oder, wenn sie richtig Glück hatten, Präsidentengattinnen.
Mit der Philosophin Simone Veil, der amerikanischen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg oder der Wissenschaftlerin Rita Levi-Montalcini porträtieren Sie auch Jüdinnen.
Ja, und Simone Veil musste hart kämpfen. So viele Jüdinnen wurden unterdrückt. Und wenn man zusätzlich zu dem Fakt, dass man eine Frau ist, noch wegen seiner Religion verfolgt wird, kann dies sehr isolierend sein. Das Gefühl, nicht die Möglichkeit gehabt zu haben, sein Leben voll zu leben, ist bleibend. Leider ist der Antisemitismus wieder ein Thema – auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Was mir wichtig war, ist, zu zeigen, dass die Frauen trotzdem erfolgreich waren, eben weil sie zu dem standen, was sie taten. Wenn man das also schafft, trotz der Verfolgung, verdient das die höchste Anerkennung.
Ist es schwierig, für Kinder zu schreiben?
Nun, das Schreiben für Kinder ist – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht – vor allem politisch, denn mit unseren Geschichten setzen wir sie einer bestimmten Perspektive auf die Welt aus und vermitteln ihnen einen Eindruck, welche Rolle sie haben sollten. Und damit geht für den Autor eine hohe Verantwortung einher.
Wie ist das Feedback der Kinder?
Das ist für mich immer das Tollste. Ich war im Herbst vergangenen Jahres zum Flamenco in einer Höhle in Sacromonte in Granada. Neben mir saß ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt. Wir fingen an, uns zu unterhalten. Es stellte sich heraus, dass sie in einem ihrer Lieblingsbücher über eine sehr bekannte Flamenco-Tänzerin gelesen hatte. Es war Carmen Amaya, und das Buch, von dem das Mädchen erzählte, war »Good Night Stories for Rebel Girls«. Die Kleine flippte total aus, als ich ihr sagte, dass ich eine der Autorinnen bin. Für mich war es eine der schönsten Begegnungen. Es gibt auch Momente, in denen Menschen auf mich zukommen und mir von Frauen erzählen, deren Biografie sie glauben, in meinem Buch gelesen zu haben – obwohl sie gar nicht darin steht. Und das zeigt mir: Diese Biografien können helfen, das, was Frauen geschaffen haben, mit anderen Augen zu sehen. Für mich ist das ein schönes Lob.
Mit der italienischen Autorin sprach Katrin Richter.
Francesca Cavallo und Elena Favilli: »Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen«. Carl Hanser, München 2019, 224 S., 24 €