Interview

Gibt es schon einen Kafka-Burger-Laden?

»Ich glaube, dass Franz Kafka noch in 100 Jahren gelesen wird«: Jaroslav Rudiš Foto: Gregor Zielke

Herr Rudiš, Sie spielen in der »Kafka Band«. Wie klingt Franz Kafka?
Wie klingt Kafka? Also für uns war es eine kleine Überraschung, dass wir in dem Werk von Franz Kafka überhaupt Musik gefunden haben oder er uns dazu inspiriert hat, Musik zu machen. Im Vergleich zum Kino oder Theater mochte Kafka Musik offenbar nicht so sehr.

Wie kam es eigentlich zur Kafka Band?
Es hat so angefangen, dass Jaromír 99, der übrigens nicht nur ein großartiger Musiker ist, sondern auch Comics zeichnet, zusammen mit David Zane Mairowitz, einem Amerikaner in Berlin-Kreuzberg, Kafkas Roman »Das Schloss« als Graphic Novel gezeichnet hat. Für eine Ausstellung und Buchvorstellung im Literaturhaus Stuttgart haben sie uns gefragt, ob wir dazu etwas Musik machen könnten, und so ist die Kafka Band entstanden – es war also der Soundtrack zur Graphic Novel und zu »Das Schloss«. Der Roman ist sowieso mein Lieblingsbuch von Kafka.

Warum?
Es ist sehr, ja, schwer, monumental, und es geht mehr in die erzählerische Breite als nach vorn. Franz Kafka als Autor geht komplett verloren in diesem Schneegestöber, im Sturm. Das Buch hat eine unglaubliche Atmosphäre. Ich komme auch aus der Ecke Tschechiens, in der Kafka mit dem Schreiben an »Das Schloss« angefangen hat, dort im Riesengebirge, in dem Ort Špindleruv Mlýn. Alles, was er darüber geschrieben hat, ist mir vertraut. Wenn er zum Beispiel beschreibt, dass es auch an dem schönsten Sommertag schneien kann, dann habe ich erlebt, was er meint. »Das Schloss« hat einfach eine unfassbare Atmosphäre. Und das war für uns als Kafka Band das Allerwichtigste: Wir wollten diese Atmosphäre vertonen.

Drei Alben gibt es von der Band: »Das Schloss«, »Amerika« und »Der Prozess«. Wie entsteht die Musik zu den Werken?
Wir arbeiten fast wie in einem germanistischen Kafka-Seminar. Wir sieben Musiker setzen uns eine Woche lang hin und lesen Kafka, lesen auch Sekundärliteratur, die Musiker bringen dann wiederum die Song­ideen. Es gibt übrigens auch zwei Singles, die wir aufgezeichnet haben. Die eine erscheint jetzt zum Kafka-Jubiläum. Sie heißt »Die Bäume«, auch ein Text von Franz Kafka, den ich sehr mag. Ein zarter, philosophischer Text über uns Menschen als Bäume im Wald. Anscheinend sind wir fest verwurzelt, aber es reicht nur ein kleiner Anstoß, und alles fällt um. Es gibt sogar eine Demofassung von »Die Verwandlung«, aber irgendwie sind wir bislang daran gescheitert. Ich liebe diesen Text. Er war der erste, den ich von Kafka gelesen habe, so mit 17 oder 18 Jahren.

Sie sind im sozialistischen Tschechien zur Schule gegangen. Wie war die Kafka-Lektüre da?
Ich hatte großes Glück, dass wir einen tollen Literaturlehrer hatten auf meinem Gymnasium im böhmischen Paradies, in Turnov. Wir Schüler empfanden die Lektüre damals als düster, aber wir haben auch sehr viel gelacht. Kafka hatte einen tollen Humor und eine Liebe für Komik, auch für Tragikomik, für das Groteske. Aber, und das war entscheidend für den Unterricht, die gelebte Mehrsprachigkeit Prags, die ist nach 1945, nach dem Holocaust, nach den Vertreibungen, verloren gegangen. Man hat mit den Menschen auch die Sprache und die Kultur vertrieben, ermordet und verdrängt – auch die auf Deutsch entstandene jüdische Kultur. Das alles, die deutsche Sprache, die deutsche Kultur, die jüdische Kultur, hat überhaupt nicht in diese monotone natio­nalistische kommunistische Erzählung gepasst. Bei den tschechoslowakischen Kommunisten in den 50er-Jahren herrschte, ähnlich wie in der Sowjetunion, ein ziemlich brutaler Antisemitismus. Ehemalige Parteigenossen wurden ermordet, es gab Schauprozesse. Kafka war damals kein Thema.

Wann änderte sich das?
Erst in den 60er-Jahren, in der Zeit des Prager Frühlings, da kam alles wieder ein bisschen zurück. Zu dieser Zeit hat man auch Kafka wiederentdeckt. Es wurde einiges wieder – teilweise auch zum ersten Mal – aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzt. Aber dann kamen die so­wjetischen Panzer 1968, und es war wieder vorbei. »Der Prozess« allein ist ja schon eine Parabel auf einen brutalen, gnadenlosen Machtapparat. Es war klar, weshalb niemand vom Regime das Buch nach dem Prager Frühling haben wollte. Erst Mitte der 80er-Jahre, also in der Zeit der Peres­troika, kam das Interesse an Kafka zurück. Eine kleine Geschichte fällt mir dazu noch ein: Kurz nach der Wende, ein halbes Jahr später etwa, bin ich mit einem Schulfreund nach Budweis getrampt. Dort haben wir beide in einem Bahnhofslokal unseren ersten Amerikaner getroffen. Er war tatsächlich wegen Kafka in die Tschechoslowakei gekommen. Das begann schon in den 80er-Jahren, und manchmal wird auch erzählt, dass uns diese Kulturtouristen Kafka zurückgebracht haben.

In Prag ist Franz Kafka ja sehr zurück – auch mit viel Kitsch.
Das ist mir alles ein bisschen zu viel. Ich mache mich darüber auch ein wenig lustig, Wer weiß, was noch kommt: Gibt es schon einen Kafka-Burger-Laden? Franz Kafka ist – wie in meinem letzten Buch »Weihnachten in Prag« – so eine Art Leuchtturm, der aus dieser Stadt mit einem unglaublich starken Licht in die ganze Welt strahlt. Er und sein Werk ziehen viele Touristen und auch Leute, an, die vielleicht noch nichts von ihm gelesen haben. Man kann Prag nicht von Kafka trennen, auch umgekehrt nicht. Seine Texte sind in diesem deutsch-tschechischen, katholischen, protestantischen, jüdischen Umfeld entstanden. Damit ist er aufgewachsen. Die deutschen Germanisten versuchen, ihn als deutschen Autor zu beanspruchen, oder die Österreicher sagen, dass er doch zum posthabsburgischen Raum gehört, und dann kommen auch noch die Tschechen und wissen ebenso wenig, wohin mit ihm.

Irgendwie zerrt heute jeder an Kafka …
Ja, und damit stellt sich auch die Frage: Wem gehört Kafka? Was viele nicht wissen, ist, dass alle diese Prager Autoren, wie Jaroslav Hašek und Bohumil Hrabal oder Karel Čapek, eben diese Zweisprachigkeit hatten, die aber völlig alltäglich war. Franz Kafkas Tschechisch muss toll gewesen sein. Das beweisen auch seine Briefe an Milena Jesenská. Seine Bücher hat er alle auf Deutsch verfasst. Und Jesenská war es, die ihn als eine der Ersten ins Tschechische übersetzt hat. Man kann also diese Stadt mit ihrer komplexen Geschichte nicht von dem Autor und seiner eigenen komplexen Geschichte trennen. Deswegen finde ich alle Versuche, ihn für sich zu beanspruchen, lächerlich.

Warum ist Franz Kafka heute noch so beliebt?
Die Lektüre ist generell unglaublich modern, minimalistisch, man kommt mit ziemlich wenigen Worten klar. Deshalb ist Kafkas Werk auch bis heute so verständlich. Und dann die Themen: Einsamkeit, Verlorensein. Einen Roman von Max Brod zu lesen, ist im Gegensatz dazu sehr anstrengend. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen, wie ein Text mit zu vielen Ornamenten. Kafka schrieb überhaupt nicht so. Ich glaube auch, dass Franz Kafka noch in 100 Jahren gelesen wird. Auch auf Tschechisch. Das liegt auch an den tollen Übersetzungen. Von »Das Schloss« ist jüngst eine sehr gute neue Übersetzung erschienen. Da wir gerade vom Schloss sprechen: Ich war Ende April auf der Burg, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Prag war, habe eine kleine Lesung für ihn und für den tschechischen Präsidenten Petr Pavel gemacht. Und ich durfte sogar auf der Burg, in diesem Schloss von Prag, übernachten.

War das so ein Kafka-Moment?
Vielleicht begann es schon vorher bei den Vorbereitungen und den Fragen: »Hat sich die Burg schon bei dir gemeldet?« Ich musste unausweichlich an Kafka denken. Das ist die größte Burganlage in Europa – und ich durfte dort übernachten. Das war wirklich eine ganz, ganz besondere Nacht.

Wie ist es dort – nachts in der Burg?
Es ist eine unglaubliche Atmosphäre da, vor dieser Kathedrale zu stehen, allein nach Mitternacht. Das war vielleicht die spannendste Nacht meines Lebens. Ich hätte nie gedacht, dass das überhaupt geht.

Haben Sie ein Auge zugemacht?
Ein bisschen, aber ich musste an so viele Geschichten denken. Ich bin ja nicht nur ein gescheiterter Lokführer von Beruf, sondern auch ein gescheiterter Historiker. Ich habe Geschichte und Germanistik studiert, nachdem ich nicht Eisenbahner geworden bin. Und das war mein Traum. Dann sprachen mich auf der Burg noch ein paar Soldaten an, die dort in der Nacht Wache hielten. Das war schon sehr besonders.

Sie pendeln zwischen Berlin und Prag. Was mögen Sie an den Städten?
Prag hatte das große Glück, in diesem geschichtlichen Wahnsinn nicht zerstört zu werden. Dieses Glück hatten viele Städte nicht. Man kann die Geschichte dort immer noch anfassen. Das fasziniert mich. Ich mag das Licht an Prag. Ach, dieses Prager Licht. Es ist unglaublich weich – auch das Licht der Menschen. Berlin hat das nicht, hier ist mir das Licht zu grell. Aber was ich an Berlin mag, ist einfach dieses großartige Kulturangebot. Vieles von dem, was in Prag im Theater läuft, wurde von Berlin inspiriert. Franz Kafka war von Berlin fasziniert. Schon zu seiner Zeit war es eine unglaublich moderne und offene Stadt. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich gern drei Wohnsitze haben. Berlin, das Böhmische Paradies, das sehr nah an Prag ist, und dann Wien.

Noch einmal zurück zum Anfang, zur Kafka Band: Welchen Text würden Sie denn gern einmal vertonen?
Das ist eine kurze Schrift, die Kafka verfasst hat, als er Angestellter der Arbeiterunfallversicherung in Prag war. Sie ist nur zwei, drei Seiten lang und beschreibt Maßnahmen zur Vorbeugung von Verletzungen bei der Arbeit an Hobelmaschinen.

Dieser Text mit diesen gruseligen Finger-Illustrationen.
Es sind ganz brutale Illustrationen. Manche sagen, sie stammen von Kafka. Da bin ich mir aber nicht sicher. Der Text ist von ihm. Und dieses Stück, was in der Tat noch viel großartiger ist als »In der Strafkolonie«, das wäre noch mein Traum. Dann könnten wir unsere Arbeit abschließen.

Mit dem Autor sprach Katrin Richter.

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