Anlässlich seines 50. Todestages am 8. April taumelten Kunsteinrichtungen und Aficionados weltweit im Picasso-Fieber. Das ganze Jahr winken Sonderschauen, und Auktionshäuser frohlocken: Erstmals seit gut 25 Jahren ist mit »Buste de femme« (1971) ein kapitales Picasso-Bild auf dem deutschen Kunstmarkt verfügbar.
Perfektes Timing: Vor Kurzem schaltete sich Claudia Roth in einen millionenschweren Streitfall ein. Auf ihr Betreiben landet Picassos »Madame Soler« nun bei Markus Söder. Die Bundeskulturbeauftragte fordert von der bayerischen Landesregierung grünes Licht für die Anrufung der Beratenden Kommission (früher Limbach-Kommission).
Jene soll klären, wem das wertvolle Frühwerk zusteht: dem Freistaat oder den Nachfahren von Paul von Mendelssohn Bartholdy (1875–1935)? Der Berliner Bankier erkannte die Bedeutung des avantgardistischen Gemäldes offenbar dank seines Gespürs für bildkünstlerische Innovationen oder dank seiner Berater und erwarb es nach 1910. Inzwischen tobt seit bald zwei Jahrzehnten der Besitzerstreit, der einiges von Fingerhakeln hat.
anrufungsrecht Die Regelung, derzufolge bei Restitutionsuneinigkeit eine Expertenkommission eingeschaltet werden kann, hat einen Geburtsfehler: Das Organ kann nur tätig werden, wenn beide Seiten zustimmen. Die Jewish Claims Conference fordert schon lange ein einseitiges Anrufungsrecht. Das wäre so praxisnah, wie es überfällig ist. Warum also kommt es nicht?
Stattdessen muss Roth in Sachen Soler Söder bemühen. Der Freistaat nämlich, der das Bild 1964 für die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen erwarb, lehnt die Prüfung ab: »Was mittlerweile der eigentliche Skandal ist«, wie Julius H. Schoeps bilanziert. »Wem gehört Picassos ›Madame Soler‹?«, fragt der Historiker im Titel seiner hochbrisanten Dokumentation.
Kenntnis- und detailreich beleuchtet er den Umgang des Freistaates »mit einem spektakulären NS-Raubkunstfall« auf 184 Seiten. Sie lesen sich wie ein veritabler Kunstkrimi. Mit Roths Intervention müssen sie einmal mehr als Pflichtlektüre gelten für alle Beteiligten. Schoepsʼ hochaktuelles Buch ist weit mehr als eine Aneinanderreihung von Sachverhalten, nämlich eine buchstäbliche Streit-Schrift.
sammler Der Autor schildert zunächst, wie es überhaupt zu Restitutionsforderungen kam. Den Anstoß gab 2004 eine kanadische Kunsthistorikerin, die Schoeps die Anregung gab, sich näher mit der Person von Mendelssohn-Bartholdy als Sammler zu befassen. Flugs stellte sie den Kontakt zu einer Anwaltskanzlei her, wiewohl keine Kernaufgabe von Kunsthistorikern. Wie kam sie dazu? Darüber hätte man gern mehr erfahren.
Schoeps macht derweil kein Hehl daraus, dass er befangen ist. In seiner »Vorbemerkung« enthüllt er – wenngleich etwas versteckt –, dass er als Mendelssohn Bartholdys Großneffe einer der Sprecher der Erben ist und durch die Verwendung der dritten Person anstelle der Ich-Form bemüht um »professionelle Distanz«. Freilich ist es ein Glücksfall, dass er die Doppelrolle des Betroffenen und des Sherlock Holmes einnimmt.
Claudia Roth trat bei der jüngsten documenta sehr viel weniger forsch für jüdische Interessen ein.
Denn wer sonst hätte derart fundiert und facettenreich das Los des Bildes verfolgt und zugleich die Schwachstellen der Kommission herausgearbeitet, wenn nicht ein Mann wie er: Politikwissenschaftler, Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Wien und des Moses Mendelssohn Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam?
familienschicksal Schoeps recherchiert akribisch, gliedert und formuliert anschaulich, fügt Dokumente ein wie die 2011 vom damaligen Chef der Staatsgemäldesammlungen, Klaus Schrenk, unterzeichnete Ablehnung der Anrufung der Kommission. Die Lektüre dürfte eine breite Leserschaft fesseln und manche zutiefst berühren: ob sie sich mehr für den Umgang mit Picasso-Werken und die Wertschöpfungskette interessieren oder für ein jüdisches Familienschicksal, das die Nazis ex negativo entscheidend prägten.
Schoepsʼ Dokumentation ist zwar nur ein kleiner Mosaikstein – angesichts des Volumens der im Gef(l)echt nationalsozialistischer Verfolgung entzogenen und verschobenen Kunst –, doch kostbares pars pro toto, das die satanische Zeit aufzuarbeiten, handelnde Figuren zu demaskieren und Machenschaften um der Gerechtigkeit willen offenzulegen hilft.
Darüber hinaus zeigt Schoeps einmal mehr auf, wie zugewandt Juden wegweisender Kunst gegenüber waren, wie erpicht, das durch Erwerb zu bekräftigen, welch versierten Blick die jüdischen Teilnehmer des Kunstbetriebs, Sammler und Händler entwickelten. Gemälde, die heute Millionen bringen, erkannten sie frühzeitig als Schätze, die der Menschheit von Jahrhundertkünstlern wie van Gogh oder Picasso geschenkt worden waren und Kunstgeschichte schreiben würden.
Bleibt die Frage: Wie viel Bewegung kommt dank Schoeps und der Grünen-Politikerin – die im Zusammenhang mit dem Antisemitismusskandal der jüngsten documenta sehr viel weniger forsch für jüdische Interessen eintrat und womöglich Terrain gutmachen will – in die Causa Soler?
modell Die blaustichige Frau selbst scheint es ergründen zu wollen: hochkonzentriert ihr Blick, eigenwillig unrealistisch die Farbwahl. Ihre Bluse mit den weiten Ärmeln, die dem Maler Anlass geben, sich in der Wiedergabe des Faltenwurfs zu üben, ist himmelblau, ihre Haut von einem helleren Blauton, der Hintergrund in einer dunklen Nuance monochrom angelegt. Elegant und entrückt wirkt die Porträtierte. Die Komposition ist noch weit entfernt von dem Stil, in dem der Andalusier später Frauenkörper dekonstruieren wird. Es ist das Jahr 1903, in dem ihm Madame Soler Modell sitzt.
Der Künstler, der ausgezogen war, um in Barcelona und später Paris die ihm gemäße Ausdrucksweise zu finden, ist Anfang 20, hat die Farbe Blau für sich entdeckt und reizt sie gerade aus. Mit dem Schaffensabschnitt, der »Blaue Periode« genannt werden wird, wird er in Verbindung mit Bildern abgemagerter und ausgemergelter Menschen weltberühmt. 1901 malt er eines seiner ersten Selbstbildnisse in Öl ebenfalls ganz in Blau. Die Frau in Blau von 1903 ist, stilistisch gesehen, eine enge Verwandte.
Schoeps konstatiert, dass die Aufklärungs- und Erstattungsquote »besonders gering« sei.
Im farbigen Abbildungsteil ist sie in Schoepsʼ Bestandsaufnahme zu sehen. Ein Abbildungsteil in Schwarz-Weiß gibt Einblick in Salons der Familie, wo Bilder wie Picassos »Fernande Olivier« (1905) hingen. An den Anfang stellt Schoeps ein Kapitel über den Umgang der Bundesrepublik mit NS-Kulturgutverlusten, erläutert die Washingtoner Erklärung. Noch zuvor konstatiert er, dass ausgerechnet hierzulande die Aufklärungs- und Erstattungsquote »besonders gering« sei, gemessen an der Anzahl belegter Raubkunst-Fälle.
mysteriös Madame Soler war die Frau eines Schneiders, mit dem Picasso Freundschaft verband. »Teilweise mysteriös« nennt Schoeps die Umstände des Ankaufs durch den Freistaat und trennt sie auf wie die Nähte eines Kleidungsstückes, um ein neues zu nähen – das womöglich, im Wortsinne, angemessener ist. Dabei hinterfragt er auch das Gebaren einer Schlüsselfigur, das selbst bayerischen Behörden spanisch vorkam: des zwielichtigen Kunsthändlers Thannhauser. Bis heute ist unklar, welche Picassos er besaß und welche er in Kommission verwahrte.
Und was fängt die 29-köpfige Erbengemeinschaft mit Señora Soler an, sollte sie restituiert werden? Einigungen, bei denen Weltkunstwerke öffentlich zugänglich bleiben, stimmen immer froh. Museen aber haben oft kein Budget für An- oder Rückkauf. Dann gehen Spitzenwerke leicht an Oligarchen oder in Herrscherhäuser am Persischen Golf.
Es wäre schön gewesen, hätte Schoeps wenigstens in einem Nachwort anklingen lassen, was seine Familie mit der Frau in Blau potenziell vorhat.
Julius H. Schoeps: »Wem gehört Picassos ›Madame Soler‹?«. Hentrich & Hentrich, Berlin 2022, 186 S., 24,90 €