Eigentlich sind sie so amerikanisch wie Apple Pie oder Coca-Cola. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Superhelden wie Magneto, Batwoman oder Doctor Manhattan doch einige sehr jüdische Merkmale aufweisen. »Kein Wunder«, betont Frederek Musall. »Denn viele ihrer Schöpfer waren selbst Juden«, so der Professor für Jüdische Philosophie und Geistesgeschichte an der Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) in Heidelberg. »Wie Joe Schuster, Erfinder von Superman, kamen sie aus Familien, die gerade in die Vereinigten Staaten eingewandert waren.«
Sie mussten also erst einmal Fuß fassen in ihrer neuen Heimat und befanden sich deshalb in gewisser Weise noch in einer gesellschaftlichen Außenseiterrolle, was in ihren gezeichneten Geschichten stets auch zum Ausdruck kommen sollte.
»Das geschah mal bewusst, mal unbewusst«, wie der bekennende Comicfan Musall erklärt. Dabei verweist er auf Stan »The Man« Lee, einen der Urväter des Superheldengenres, der zusammen mit Jack Kirby, geboren als Jacob Kurtzberg, für Marvel mit The Incredible Hulk, Iron Man oder Thor und X-Men gleich einen ganzen Kosmos an Figuren schuf. »Auf die Frage, wie viel Jüdisches in seinen Geschichten steckt, antwortete Lee, dass er darüber eigentlich noch nie so richtig nachgedacht hätte.«
DISKURSE Damit war man auch schon mittendrin im Thema des Online-Vortrags »Jüdische Superheld:innen. Zwischen Popkultur und Identitätspolitik«, der den Startschuss für das neue digitale Kooperationsprojekt »WISSENSCHAFT ZUHAUSE/MADA BA-BAYIT« der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden gab.
Auf diese Weise will man auch im 15. Monat der Pandemie den Faden zu den Gemeindemitgliedern nicht abreißen lassen. »Vielmehr sollen intellektuelle Diskurse weitergeführt oder überhaupt erst möglich gemacht werden«, bringt es Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung, auf den Punkt.
Mit der Reihe will die Bildungsabteilung den Kontakt aufrechterhalten.
Barbara Traub, Mitglied des Präsidiums des Zentralrats, erhofft sich durch das virtuelle Angebot neue Optionen einer besseren Vernetzung untereinander. Das Ausloten des Jüdischen in der Popkultur sei dafür ein hervorragender Einstieg – nicht zuletzt deshalb, weil das Genre generationenübergreifend ist und trotz seiner modernen Ausdrucksformen an traditionelle Überlieferungen anknüpft, die vielleicht nicht immer auf den ersten Blick sichtbar sind. »Aber auch Mosche Rabenu lässt sich durchaus als ein Superheld denken, wenn man daran erinnert, wie er seinerzeit das Rote Meer teilte.«
Vor allem die X-Men liefern dazu reichlich Diskussionsstoff. »Sie sind Mutanten, deren Superkräfte auf genetische Mutationen zurückgehen«, so Frederek Musall. »Zum einen brauchen sie eine Erzählung, woher nun ihre Power eigentlich stammt. Zum anderen markieren diese Superkräfte die X-Men aber auch als Fremde und Außenseiter, vor denen die Gesellschaft sich schon mal fürchten kann. Trotzdem werden sie nicht müde, die Welt immer wieder aufs Neue zu retten.«
Manchmal hat man auch den Eindruck, durch sie mit einer Persiflage konfrontiert zu sein, weil Superhelden voller Stereotype stecken. »Doch diese Klischees werden regelmäßig aufgebrochen.« Genau das macht sie spannend und vielschichtig. Darüber hinaus wird die eigene Ohnmacht in den Comics aufgegriffen und zugleich überwunden.
Superman oder Captain America gaben schon in den 40er-Jahren den Nazis Saures. Und sie lieferten so etwas wie die Vorlage für den Roman The Amazing Adventures of Kavalier & Clay von Michael Chabon, der gleichfalls eine Art Empowerment gegen das ultimative Böse verhandelt.
OUTING Bemerkenswert ist ferner die Genese der Figuren. So dauerte es rund 40 Jahre, bis Benjamin Grimm von den Fantastic Four, besser bekannt als »The Thing«, nach seiner Erschaffung durch Lee und Kirby sich als Jude outete. »Schämst du dich etwa, jüdisch zu sein?«, wird er in einer 2002 erschienenen Geschichte von Mr. Sheckerberg, einem alten Ladenbesitzer im Viertel seiner Kindheit, gefragt. »Die Leute nehmen mich nur als Monster wahr«, lautet die Antwort, was Sheckerberg wiederum infrage stellt und The Thing einen Magen David in die Hand drückt.
»Auch ist das Jüdische keine Konstante in den Handlungen«, weiß Musall zu berichten. »Es taucht immer nur sporadisch auf, manchmal alle paar Jahre nur.« Und selbst einem schwierigen Thema wie der Schoa kann dann in den Comics Raum gegeben werden.
In den Comics wird die eigene Ohnmacht aufgegriffen und zugleich überwunden.
Eine der faszinierendsten Figuren ist für den Experten in diesem Kontext Magneto, weil er im Laufe der Jahrzehnte gleich mehrere Wandlungen durchlebt hat, und zwar vom Schurken zum Helden und schließlich zum Antihelden. »Das verweist auf das Potenzial des Superheldengenres, das so zugleich immer auch gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt.« Gerade ist das Thema Diversität schwer in Mode. »Doch manchmal kann das reichlich gewollt sein.«
Und es gibt für Musall sogar einen aktuellen deutsch-jüdischen Superhelden. »Die Figur des Dima in Masel Tov Cocktail fällt durchaus unter diese Kategorie.« Der Protagonist habe gezeigt, dass Juden auch anders können als nur komisch sein oder vielleicht das Opfernarrativ bedienen. »Sie können sich auch wehren.«
Die Reihe » WISSENSCHAFT ZUHAUSE/MADA BA-BAYIT« wurde am 2. Juni fortgesetzt mit einem Vortrag von Johannes Becke zum Thema »Minderheiten in Israel. Nichtjüdisches Leben im jüdischen Staat«, der ebenfalls online abrufbar ist.