Verträumt summt Ernie »Mein Hut, der hat drei Ecken« und schaut in der Gegend herum. Plötzlich kommt ein geheimnisvoll aussehender Mann im Trenchcoat vorbei. »Hey, Du!«, raunt er Ernie zu und schaut sich dabei verschwörerisch um. Ob er etwas kaufen möchte, fragt er Ernie.
»Was verkaufen sie denn?«, antwortet Ernie fröhlich und der geheimnisvolle Verkäufer – in der amerikanischen Originalserie heißt er Lefty, in der deutschen Variante Schlemihl – öffnet verstohlen seinen Mantel und zeigt ihm eine Acht, flüstert immer wieder »Psst!« und »Genau!«. »Warum soll ich mir denn eine Acht kaufen?«, denkt sich Ernie, doch der Mann lässt nicht locker: Dann wisse er immer, wie viele Arme eine Krake habe, wann es Frühstück gibt, wie viele Ruderer ein Achter hat.
KRÜMELMONSTER An diesen Clip und zahlreiche andere - wie etwa den tollpatschigen Grobi als Kellner, Kermit als rasender Reporter oder das Kekse verschlingende Krümelmonster - müssen vermutlich Millionen Menschen denken, die seit den 70er-Jahren mit der »Sesamstraße« aufgewachsen sind. Am Sonntag (8.1.) hat der Klassiker in Deutschland 50. Geburtstag.
»Der, die, das, wieso, weshalb, warum?«: 18.30 Uhr war lange Jahre »Sesamstraßen«-Zeit. »Ich habe die Sesamstraße geliebt und jeden Abend auf meine gestreiften Popstars Ernie und Bert gewartet - vorm Fernseher im ebenfalls gestreiften Schlafanzug. Was für ein anarchisches Fernsehglück!«, erinnerte sich »Tagesthemen«-Moderatorin Caren Miosga (53) bei der Aufzeichnung der Jubiläumssendung.
Erstmals ausgestrahlt wurde die »Sesame Street«, so der Originaltitel, am 10. November 1969 im US-Fernsehen. Die Idee, eine Sendung speziell für Vorschulkinder zu machen, hatte die amerikanisch-jüdische Fernsehproduzentin Joan Ganz Cooney. Sie konnte den legendären Puppenspieler Jim Henson für die Sendung gewinnen. »Er hasste die Idee, ein Kleinkinderstar zu sein, aber dann hat er an seine eigenen Kinder gedacht und zugesagt«, erinnerte sich Cooney.
JIDDISCH Die neue Kindersendung richtete sich an sozial schwächere Familien und spielte in einer fiktionalen Straße mitten in New York, mit rauchenden Gullys und scheppernden Mülltonnen. Sogar Jiddisch wurde später auf einem Sesamtraßen-Album gesungen - von dem Ladenbesitzer Mr. Hooper (einer Figur der Sesamstraße, gespielt von dem jüdischen Schauspieler Will Lee), in der deutschen Variante als »Herr Huber« bekannt.
Als in Deutschland ab 1973 synchronisierte Original-Folgen ausgestrahlt wurden, protestierte ein Bündnis aus Eltern, Erziehern und Wissenschaftlern gegen das Flair der amerikanischen Straßenszenen, das mit der Lebenswelt deutscher Kinder nichts gemein habe.
TIFFY UND SAMSON Am 2. Januar 1978 startete eine »deutsche Sesamstraße« als Rahmenhandlung, die der Norddeutsche Rundfunk (NDR) federführend produzierte. Neben einer neuen Kulisse gab es auch zwei neue Puppen: den leichtgläubigen Bären Samson (»uiuiuiuiui«) und die altkluge Tiffy, die zusammen mit Schauspiel-Stars wie Henning Venske, Liselotte Pulver, Uwe Friedrichsen oder Horst Janson auftraten.
»Die Wahrnehmung und Stärkung der Eigenkompetenz, eine positive Wertevermittlung und ein unmittelbarer Bezug auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Vorschulkinder hierzulande sind Grundlage aller Geschichten der Sesamstraße seit 50 Jahren«, sagt NDR-Redakteur Holger Hermesmeyer. Damit das Angebot zeitgemäß bleibe, habe der NDR die »Sesamstraße« vielfach weiterentwickelt. Beispiele seien die Reihe »Eine Möhre für zwei« mit den Puppen Wolle und Pferd, ebenso die Ernie & Bert-Songs mit Prominenten – von Herbert Grönemeyer über Helene Fischer bis Jan Delay.
LEITFRAGEN Standen früher noch Zahlen und Buchstaben im Vordergrund, stehen heute eher soziales und emotionales Lernen auf dem Programm. »Leitfragen sind zum Beispiel: Wie gehe ich mit mir und meinen Mitmenschen um? Oder: Wer bin ich? Welche Gefühle habe ich?«, sagt Hermesmeyer. Auch Themen wie Natur- und Umweltschutz, Klimawandel, Ernährung, Diversität, Leben mit Behinderung oder Krankheit werden passend für die Zielgruppe der Drei- bis Sechsjährigen aufbereitet. Etliche Proteste handelte sich der NDR ein, als er 2003 die Sendung von ihrem angestammten Vorabendplatz ins Morgenprogramm verlegte.
»Die Basics bringt dir die Sesamstraße bei: das Ding mit dem Zählen, was ist fern, was ist nah, alle diese Sachen«, erinnert sich Comedian Torsten Sträter. »Ich mochte besonders gerne Oskar aus der Mülltonne. Den hab ich sehr geliebt«, sagt der 56-Jährige. Schauspielerin Meltem Kaptan lernte mit der Sendung mehr als nur die deutsche Sprache: »Pädagogisch wertvoll war die Sesamstraße und wir hatten den Auftrag, dass wir als Migrationskinder gutes Deutsch lernen sollten«, erinnert sich die 42-Jährige. »Das war so das Leben, was du dir als Migrantenkind gewünscht hast: alle bunt, jeder ist unterschiedlich, aber es funktioniert - alle leben ohne Streit zusammen.«
Mit der Adaption»Shalom Sesame« sollten in den USA übrigens seit 1986 amerikanisch-jüdischen Kindern das Judentum und die hebräische Sprache nähergebracht werden. Auf YouTube gibt es heute noch zahlreiche Videos zu jüdischen Feiertagen zu sehen. In Israel erschien mit »Rechov Sumsum« 1983 erstmals eine hebräischsprachige Ausgabe der Sesamstraße, auf der »Shalom Sesame« teilweise beruhte. (dpa/ja)