Es gab eine Zeit, da war ich regelrecht biblioman. Stundenlang stöberte ich in Buchhandlungen, gab mehr für Literatur als für Essen und Kleidung aus, las fünf, sechs Bücher in der Woche. In meiner Wohnung stapelten sich die Bände. Buchmessenbesuche versetzten mich in einen regelrechten Rausch.
Wie bei vielen anderen Süchten auch, half dagegen eine Aversionstherapie. Ich wurde Literaturredakteur der Jüdischen Allgemeinen. Seither habe ich eine gesunde Abneigung gegen alle Arten von Druckwerken. Nichts kann einem das Lesen mehr verleiden, als wenn man dazu gezwungen ist. Mir geht es da wie Prostituierten, die, wenn sie nicht dafür bezahlt werden, wenig Lust auf Sex haben.
Fernsehserien Das liegt zunächst einmal an der Literatur selbst. Wenn man sich tagsüber durch Dutzende schlecht geschriebener, miserabel lektorierter und katastrophal übersetzter Bücher gequält hat, schaut man abends lieber Fernsehserien, als sich noch mehr Lektüre anzutun. Und das ist längst noch nicht das Schlimmste an dem Job. Denn als Literaturredakteur muss man nicht nur missratene Bücher ertragen, sondern auch ihre Verfasser.
Autoren sind von Natur aus narzisstisch gestört. Sonst würden sie nützlichen Tätigkeiten nachgehen, als Konditor oder Klempner etwa, statt mit Selbstverfasstem zwanghaft die Aufmerksamkeit der Umwelt zu suchen.
Jüdische Autoren sind dabei nicht schlimmer als andere. Es gibt nur, erstens, prozentual mehr davon. Zweitens ist die jüdische Gemeinschaft hierzulande klein, man kennt sich weitläufig. Weshalb vor Buchmessen die Mails von Bücherschreibern im Stundentakt auflaufen: »Ihr werdet doch sicher mein neues Buch besprechen?« Erwartet wird selbstverständlich ein Ja. Verfängt das nicht, begeben die Verfasser sich auf den Marsch durch die Institutionen. Gemeindevorstände werden aktiviert, die beim Zentralrat Druck machen. Der gibt, sichtlich genervt, das Ansinnen weiter an den Chefredakteur, der, noch genervter, den Literaturredakteur anweist, ihm diese Plage qua Besprechung vom Leib zu halten.
klagen Wobei eine schlichte Rezension natürlich nicht genügt. Es muss eine Lobeshymne werden. Sonst wird der Verfasser böse. Wehe gar, man verreißt sein Werk. Für eine jüdische Zeitung gilt bei jüdischen Autoren – nach deren Ansicht jedenfalls – die Mizwa Ahavat Jisrael, das Gebot der unbedingten Solidarität. Wer als Rezensent dagegen verstößt, ist, ich zitiere einen wütenden Bücherschreiber, »nicht besser als die Judenräte, die während der Schoa mit den Nazis kollaborierten«.
Verleumdungsklagen werden angedroht oder Beschwerden beim Zentralrat (siehe oben). Die Mindeststrafe ist die soziale Ächtung. Ich kenne einen Autor, der wegen einer unliebsamen Rezension vor 30 Jahren seither nicht mehr mit mir redet. Nicht einmal mein »Chatima Tova« beim Jom-Kippur-Gottesdienst würdigt er einer Reaktion.
Zum Glück bin ich inzwischen im Ruhestand. Mit Büchern und Autoren müssen andere sich jetzt rumärgern. Ich schreibe nur noch. Gerade ist meine erste fiktionale Kurzgeschichte herausgekommen. Apropos: Wieso ist die im Blatt nicht rezensiert worden? Das wird Konsequenzen haben!