Es hätte ein Alarmsignal in der jäh unterbrochenen Karriere des jungen Flötisten Günther Goldschmidt sein können: 1938, so erinnert er sich, vor einem Konzert des Orchesters des Jüdischen Kulturbundes, einer von Joseph Goebbels als Alibiorganisation missbrauchten Vereinigung, die vor dem Ausland die Lebendigkeit jüdischen Lebens in Nazideutschland bezeugen sollte, prügeln zwei Gestapomänner ein altes Ehepaar aus dem ausverkauften Saal, um Platz für andere Gäste zu machen. »Wir werden das aussitzen«, habe er zu der jungen Bratschistin Rosemarie, seiner späteren Frau, gesagt.
Lange halten sich beide an der Illusion fest, die Musik werde ihnen die Kraft verleihen, die schweren Zeiten zu überstehen. Erst im Jahr 1941, wenige Monate vor der Auflösung des Kulturbundes, eröffnet sich dem jungen Paar – nach einem Kammerkonzert in der US-Botschaft in Berlin – im letzten Moment die Möglichkeit, in die Vereinigten Staaten zu fliehen. Eltern, Großeltern und Geschwister werden von den Nationalsozialisten ermordet. Doch noch im Alter besteht George Goldsmith, wie sich Günter Goldschmidt in den USA nennt, darauf, zwischen den Deutschen und den Nazis zu unterscheiden.
buchvorlage In seinem Buch Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte (2002) hatte sein Sohn Martin Goldsmith, in den USA ein bekannter Radiomoderator für klassische Musik, die Gespräche mit seinem Vater über diese Jahre sowie die Rolle des Jüdischen Kulturbundes festgehalten. Zusammen mit dem Regisseur Anders Østergaard hat er nun daraus Dialoge destilliert, die die mühsame Rekonstruktion des lange Verdrängten erkennen lassen.
Im letzten Moment gelang dem jungen Mann die Flucht aus Deutschland in die USA.
Østergaard geht es mit seiner Erinnerung an ein jüdisches Emigrantenschicksal nicht um die Darstellung historischer Ereignisse und Zusammenhänge, sondern um Zeitkolorit und Stimmungen, die von diesen Erinnerungen hervorgerufen werden. Sein Film ist weniger eine Dokumentation als ein filmischer Essay, der die Regeln des Dokumentarischen bewusst unterläuft.
Østergaard arbeitet geradezu spielerisch ungezählte Archivalien auf. In historische Fotos, etwa des Kulturbund-Orchesters, montiert er, wie seinerzeit Woody Allen in Zelig, die Fotos seiner jungen Protagonisten (Leonard Scheicher und Fritzi Uhrig) ein oder lässt die beiden durch alte Postkartenbilder laufen.
Filmaufnahmen von Autofahrten durch das Oldenburg der frühen 60er-Jahre begleiten die Erinnerungen des damals zehnjährigen Martin an die erste Deutschlandreise mit seiner Familie. Noch bevor sie das ehemalige Haus der Familie erreicht hatten, sei sein Vater umgekehrt, so berichtet der Sohn, den der Vater lange in dem Glauben lässt, die Verwandten seien im Krieg gestorben.
schlüsselmomente Kurze nachgestellte Szenen illustrieren Schlüsselmomente im Leben des jungen Günther. Mit den schwarz-weißen Sequenzen kontrastieren Aufnahmen aus dem Amerika der Gegenwart, knallbunte Werbeflächen und Bilder von der Wüste Arizonas, wo der alte Goldsmith nach dem Tod seiner Frau wohnen blieb. Unterlegt sind viele Passagen des Films, bisweilen sentimental, manchmal etwas pathetisch, mit Musikfragmenten von Beethoven bis Mahler. Die ersten Takte von Franz Schuberts Winterreise geben das Thema vor: »Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh’ ich wieder aus.«
Der Figur des Emigranten verleiht Bruno Ganz eine altersmilde Melancholie.
Die Rolle des George Goldsmith spielt der im Jahr 2019 verstorbene Bruno Ganz. Es ist sein letzter Film. Als einer der renommiertesten und höchstdekorierten deutschsprachigen Theaterschauspieler war Bruno Ganz von Ödipus über den Prinz Friedrich von Homburg bis zum Faust in Peter Steins legendärer Inszenierung in ungezählten klassischen Rollen zu sehen.
Zu Ganz’ Werk gehörten immer wieder auch Rollen in Filmen mit zeitgeschichtlichen Bezügen; 2004 seine Rolle als Hitler im viel diskutierten Untergang, zuletzt die des Juden Arthur Bloch in Jakob Bergers Ein Jude als Exempel (2016) oder des Nazirichters Werner Lueben in Terrence Malicks Ein verborgenes Leben (2019).
Melancholie Der Figur des George Goldsmith verleiht Bruno Ganz in Østergaards Film – wie auch anderen seiner späten Rollen – eine altersmilde Melancholie, die der bisweilen insistierenden Ungeduld des Sohnes, der die Fragen aus dem Off selbst stellt, mit Gelassenheit, manchmal auch mit Schweigen begegnet. Die Schrecken der Vergangenheit lässt er nur unter den bohrenden Fragen des Sohnes zurück ins Gedächtnis kommen. Im Gespräch muss ihn der Sohn zuweilen sogar an sein Judentum erinnern: »Du bist so jüdisch wie Gefilte Fisch!«. Auch diese Realität kann der Vater (»Ich bin kein Fisch!«) so schnell nicht an sich heranlassen, selbst an die eigene Barmizwa will er sich nicht erinnern können.
Das Gespräch zwischen Vater und Sohn wird viel Unangenehmes aufdecken, manches im Ungefähren belassen. Verzweifelt um Hilfe bittende Briefe der schließlich in NS-Lagern ermordeten Verwandten aus Deutschland an das glücklich geflohene Paar deuten auf schwere Gewissensbisse hin. In einer Szene steht der Vater vor vertrockneten Oleanderbüschen: »Wie konnte ich sie nur vergessen?«.
Ab 22. Oktober im Kino