Frau Schram, was macht eine gute Geschichte aus?
Eine gelungene Erzählung erreicht direkt unser Herz und überwindet Grenzen. Interessante Charaktere sind dabei ganz wichtig, sie tragen die Geschichte schließlich. Ein guter Erzähler trichtert seinen Lesern auch nicht eine bestimmte Moral ein. Andernfalls greift die Erkenntnis von Johann Wolfgang von Goethe: Man merkt die Absicht und ist verstimmt.
»Fang niemals ein Buch mit dem Wetter an«, war das Motto des kürzlich verstorbenen Krimi-Autors Elmore Leonard. Hatte er recht?
Jein. Auf der einen Seite ist es nicht sonderlich kreativ, mit dem Wetter zu beginnen. Andererseits kann ein begnadeter Schriftsteller über alles schreiben. Das gilt auch für meine Arbeit als Geschichtenerzählerin. Timing, Rhythmik und eine gut geschulte Stimme retten jeden noch so miserablen Text.
Sie sind Professorin des Stern College in New York und unterrichten »Speech and Drama«. Wie wurden Sie Geschichtenerzählerin?
Das wurde mir gewissermaßen in die Wiege gelegt. Ich komme aus einer ziemlich frommen jüdischen Kantorenfamilie aus Connecticut und bin mit den biblischen Geschichten aufgewachsen. Als Kind konnte ich nicht genug von ihnen bekommen. Diese Erzähltradition gab ich dann weiter, als meine beiden Kinder geboren wurden. Warum soll ich diese Storys nicht auch anderen Kindern vorlesen, dachte ich mir. Das war in den frühen 70er-Jahren. Der Rest ist Geschichte: Seitdem lese ich in Museen, Synagogen und jüdischen Kindergärten auf der ganzen Welt.
»Jewish Stories – One Generation Tells Another« heißt das Programm mit dem Sie unter anderem bei den Jüdischen Kulturtagen in Berlin aufgetreten sind. Worum handelt es sich dabei?
In diesem Erzählabend geht es um all die großartigen Geschichten und Märchen im Judentum, die die jüdische Historie, Tradition, Religion und Ethik enthalten. Ich finde es bemerkenswert, dass Rabbiner, Eltern, Freunde und Lehrer diese Erzählungen über Jahrtausende hinweg von Generation zu Generation mündlich weitergeben. Das sagt viel aus übers Judentum. Geschichtenerzählen ist Teil der jüdischen DNA.
Ist die Kulturtechnik des Geschichtenerzählens angesichts von Twitter, Facebook und Co. überhaupt noch zeitgemäß?
Gerade weil überall digitale Ablenkung vorhanden ist, ist das Geschichtenerzählen wichtiger denn je. Ein befreundeter Ethnologe erzählte mir kürzlich Folgendes: In einem kleinen afrikanischen Dorf legte sich der Stammesführer den ersten Fernseher zu. Anfangs schaute das Dorf jeden Abend und ließen sich nicht mehr vom Stammesältesten wie früher Geschichten erzählen. Nach einiger Zeit aber kehrten die Leute zu ihm zurück. Es stimmt, sagten sie zu ihm. Das Fernsehen kennt viel mehr Geschichten als du, und es sendet pausenlos. Aber das Fernsehen kennt mich nicht. Ich finde, die Geschichte sagt alles.
Mit der New Yorker Geschichtenerzählerin sprach Philipp Peyman Engel.
Peninnah Schram wurde in New London, Connecticut, geboren. Sie ist Professorin für »Speech and Drama« am Stern College in New York und reist um die ganze Welt, um Geschichten zu erzählen und Erzähler auszubilden. Wenn sie erzählt, schreiben Kritiker, »hören selbst die Blätter der Bäume auf zu zittern, um ihr lauschen zu können«.