»Was kann ein vernünftiger Mensch gegen Katzen haben?« Sollte man ein Hauptthema benennen, das Chaim Nolls Geschichtensammlung Kolja durchzieht, dann sind das Katzen. Immer wieder tauchen sie auf sanften Pfoten in den Erzählungen auf.
Mal schützen sie das Haus vor dem Ungeziefer der israelischen Wüste, dann bringen sie heimlich Liebende zusammen. Ihr verschwiegenes Zentrum haben sie bei Nolls Frau, die als innige Katzenliebhaberin bekannt ist in der sandumspülten Siedlung irgendwo in Südisrael. So flüchtig wie hier die Blüte der Wüstenblume vergeht, sind die Begegnungen, von denen Noll Bericht gibt.
lapidar »Es hat keinen Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die man nicht selbst erlebt hat oder wenigstens erlebt haben könnte«, lässt ein Lehrer in einer Episode seine Schüler wissen. Dieses Diktum gilt auch für Chaim Noll. Ob der Band nun wahre Begegnungen oder wahrhaftige Erfindungen enthält, ist unerheblich: Sie sind durchweg vom Gespür für Menschen und Situationen getragen, keine komplizierten Kompositionen, sondern mit wunderbar lapidarer Geste festgehalten.
So wie Kolja eine Sammlung von Begegnungen und Bewegungen ist, verlief auch Chaim Nolls bisheriger Lebensweg selbst nicht geradlinig. In Ostberlin 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll geboren, reiste er 1983 nach Westberlin aus, zog später nach Rom. Seit 1995 lebt er als Autor in Israel, hat aber sein deutschsprachiges Publikum nie aus den Augen verloren.
In dem 2010 erschienenen Roman Feuer interessierte Noll die Gemeinschaft am Abgrund: Eine Gruppe Menschen kämpft in einer postapokalyptischen Welt ums Überleben. Weit weniger dramatisch, leiser, aber ebenso reizvoll fallen Nolls nun vorgelegte Beschreibungen menschlicher Schicksale und Verhältnisse aus. »Überall gibt es Grenzen«, warnt der schon erwähnte Lehrer. »Lasst euch bloß nicht erzählen, wir lebten in einer ›grenzenlosen Welt‹.«
grenzen Identität in ihrer Brüchigkeit ist denn auch das große Thema der kleinen, meist sehr kurzen Texte. Noll lässt religiöse Juden auftreten, für welche die Erfüllung der Mizwot die wichtigste Aufgabe ist, und bringt Gelegenheitsgläubige, Agnostiker und Atheisten zum Sprechen, die miteinander und aneinander vorbei leben.
Denn stets bedeutet Identität auch Grenzziehung. Wenn der titelgebende Kolja, ein russischer Einwanderer, im Gefecht für Israel fällt und die Eltern um das Land seiner Beisetzung streiten, wenn ein Italiener den Nachweis über sein Judentum nicht erbringen kann und eine deutsche Konvertitin ihre Eltern fast in die Verzweiflung treibt, während andere ihre jüdischen Wurzeln partout nicht interessieren, zeichnen sich jeweils auch die Grenzen des gegenseitigen Verstehens ab, ohne gleich Aversion zu sein.
stoisch Immer sind es die Einmaligkeit des Individuums und seine Eigenarten, die Noll hervorhebt. Anhand einer Gruppe ausländischer, nach einem Attentat nicht ans Ausreisen denkender Studierender führt Noll jenen stoischen Trotz und Gleichmut vor, im Angesicht des Terrors weiterzumachen – so, wie es Israelis mit größtmöglicher Normalität tun. Große Gesten oder gar Anklagen kommen nicht vor, wenn Noll seine Leben in der neu gefundenen Heimat im Guten wie im Schlechten beschreibt.
Selten enthält Nolls wunderbar lakonischer Erzählstil eine Wertung. Im Minimalismus zurückgenommen, malt er nichts aus, sondern hält seine Beobachtungen in klaren Bildern fest. Seine Menschen- und Landschaftsbilder enthalten nichts Schwelgerisches, selbst dann, wenn der Autor schwärmt. Chaim Nolls Geschichten aus Israel bestechen durch ihren angenehm warmen Grundton, das genaue Hinsehen und manch sympathische Einsicht. »Mir war plötzlich«, ist da etwa zu lesen, »als käme alles, was uns heute bedrückt, aus uns selbst. Als hätten wir selbst die Plagen heraufbeschworen, die uns heimsuchten.«
Chaim Noll: »Kolja«, Verbrecher Verlag, Berlin 2012, 288 S., 24 €
Im Mai ist Chaim Noll auf Lese- und Vortragsreise durch Deutschland. Termine unter www.verbrecherverlag.de/lesungen