»Nach kurzem Zögern stürze ich hinein, sofort erfasst er mich, reißt mich mit sich fort, lässt mich nicht mehr los.« Nobelpreisträger Imre Kertész hat mit diesem Bild wunderbar das Werk seines Kollegen und Landsmanns László Krasznahorkai beschrieben, und die Strudel-Metapher gilt auch für die jüngsten drei Erzählungen des ungarischen Schriftstellers Im Wahn der Anderen.
Im Dialog mit dem tiefgründig-figurativen Maler Max Neumann entwickelt Krasznahorkai eine literarische Meditation über das Leid aus der Perspektive des gefangenen Tieres. »Animalinside« vereint in sich dichtend und bildnerisch die Klage jeder geschundenen Kreatur.
Neumann zeichnet in Mischtechnik auf Papier die Kreaturen in ihrer Not, Krasznahorkai schreibt: »Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu heulen, und nun bin ich für immer nur meine Anspannung und mein Heulen, alles, was war, ist nicht mehr … also heule ich halt in einem einzigen Heulen, ausgeschlossen aus der Zeit, eingeschlossen in einen Raum, der nicht für mich dimensioniert ist … ihr könnt mich nicht beschreiben, ihr könnt mich nicht malen, weil ihr nicht wisst, was der Augenblick ist, nicht wisst, was das Ewige ist.«
Krasznahorkai schreibt auf Ungarisch, spricht Deutsch und lebt hin und wieder in Berlin.
Dass der Mensch sich die Erde untertan mache, bedeutet in der jüdischen Ethik nicht, andere Lebewesen in Käfigen und Schlachthäusern zu quälen, um sie zum Nutzen der Menschen massenhaft zu töten. Tieren darf kein unnötiger Schmerz zugefügt werden, sie haben ein Recht auf das Leben.
László Krasznahorkai und Max Neumann gelingt es eindrücklich, der Misere des Lebendigen in Gefangenschaft einen Ausdruck zu verleihen, mit grafischen Silhouetten und Symbolen und einer introspektiven, gleichsam das Unbewusste anrührende Sprache.
Krasznahorkai, 1954 in Gyula in eine jüdische Familie geboren, schreibt auf Ungarisch, spricht Deutsch und lebt hin und wieder in Berlin. Jedes Jahr findet sich sein Name auf den Eventuell-Listen der möglichen Literatur-Nobelpreisträger. »Weltliteratur, unbedingt lesen«, so hat Literaturkritiker Denis Scheck einst zur Lektüre dieses Dichters aufgerufen.
Im Wahn der Anderen beweist eindrücklich die Meisterschaft des 70-jährigen Fast-Nobelpreisträgers. Da möchte ein Bibliothekar die Bücher vor der Ausleihe der Leser retten: »Wir, und ich denke, das kann ich im Namen aller knick- beziehungsweise senkfüßigen Bibliothekare der Welt sagen, mögen unsere Leser nicht besonders, und da drücke ich mich noch sehr verhalten aus.« Am liebsten würde er sie aus den Bibliotheken jagen, so wie die Schweine aus Juweliergeschäften. Sie sind der Bücher und ihrer Geschichten nicht wert.
Ein altmodisches, fast aus der Zeit gefallenes Bild angesichts des dramatischen Leserschwunds im Siegeszug des Digitalen?
Ein altmodisches, fast aus der Zeit gefallenes Bild angesichts des dramatischen Leserschwunds im Siegeszug des Digitalen? Eher eine Allegorie auf das Unverständnis, Kunst, Dichtung und auch Musik begreifen zu wollen. Diese drei Dimensionen tragen die letzte Geschichte: »Richtung Homer«. Da versucht ein Verfolgter, im Takt eines Schlagzeugsolos seinen Häschern zu entfliehen, quer durch Europa mit Zug und Fähre.
»Es war völlig offensichtlich, dass die richtig gewählte Geschwindigkeit ein Fehler war … die richtige Geschwindigkeit nämlich hätte seine Bewegungen berechenbar gemacht … Er wählte die Geschwindigkeit falsch, unberechenbar.« Die Jagd endet auf einer abgelegenen Insel. Will er dort ankommen? Was entdeckt er zum Schluss? Er hatte nicht aufgegeben … darum geht es. Nicht aufzugeben.
László Krasznahorkais kontemplativ-abgründige Weltbeobachtungen sind keine simple Freizeitlektüre. Kongenial von Heike Flemming übersetzt, leuchten sie in Verbindung mit Max Neumanns großer bildnerischen Aussagekraft die Dimensionen zeitgenössischer Literatur neu aus.
László Krasznahorkai: »Im Wahn der Anderen. Drei Erzählungen« Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 256 S., 38 €