Tagung

Gerücht mit Folgen

Antisemitismus ist ein Begriff, der vor 100 Jahren erfunden wurde, stellt Moshe Zimmermann, emeritierter Historiker der Hebräischen Universität Jerusalem, fest. »Seit es eine hebräische Geschichte gibt, gibt es auch eine Feindschaft gegen die Hebräer. Man hat das Wort Antisemitismus so spät erfunden, weil man Abschied nehmen wollte von der alten Judenfeindlichkeit.«

Zur Tagung »Das Gerücht über die Juden – Antisemitismus heute« hatten die Evangelische Akademie zu Berlin in Zusammenarbeit mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und der Bundeszentrale für politische Bildung geladen. Die Auftaktveranstaltung fand am Freitag in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt statt. Vertieft wurde das Thema am Wochenende in Seminaren in der Evangelischen Bildungsstätte auf Schwanwerder mit Vetretern vieler Organisationen, Fachleuten und Journalisten. Ziel des Kongresses war es, »die gegenwärtigen Erscheinungsformen des Antisemitismus und seine Bedeutung zu verstehen«.

Stereotyp Bestandsaufnahme, Selbtreflexion, Gerücht, Israelkritik waren einige der Agenda-Begriffe. Auf der Podiumsdiskussion am Gendarmenmarkt stellten sich Moshe Zimmermann, der Gewaltforscher Andreas Zick, die Psychologin, Erziehungswissenschaftlerin und Leiterin der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland Sabena Donath und der Historiker Dmitrij Belkin den Fragen des evangelischen Theologen Christian Jaffa, von Anita Haviv von der Agentur Israel Encounter Programs und denen des Publikums.

»Wir alle wissen von der Wucht des Gerüchts«, sagt der Bielefelder Forscher Zick im gut gefüllten Saal. »Rede nicht über das Gerücht, denn sonst wird es Wirklichkeit. Ist die deutsche Gesellschaft vorbereitet, geschützt vor Antisemitismus?« Der Jude sei immer der Wanderer, der Spekulant gewesen, folgt Thomas Krüger von der Bundeszentrale. »Heute begegnen wir anderen Stereotypen.« Er betrachte es als »geduldige und beharrliche Aufgabe der Politik«, diesen Stereotypen vorzubeugen: »Sie passen sich der Zeit und dem Kontext an, manchmal sogar ohne die Anwesenheit von Juden. Soziale Medien verleihen dem heute zusätzliche Vitalität.« Und er formiliert eine der Kernfragen: »Wann ist die Rolle des Sündenbocks sogar auf Israel übergegangen?«

Abgrenzung Aber zurück zu den Wurzeln. Für viele Juden sei im 19. Jahrhundert eine paradiesische Zeit angebrochen, als es Gesellschaften gab, die bereit waren, Juden zu akzeptieren, meint Zimmermann. »Doch die Gleichberichtigung der Juden führte nicht dazu, dass die Judenfeindlichkeit verschwand. Sie hatte sich nun ein neues Wort gesucht.«

Damit ist man im Thema, und der Begriff allein scheint so schwierig wie seine Abgrenzung: Einen arabischen Antisemitismus etwa könne es gar nicht geben, so Zimmermann, »weil Araber auch Semiten sind«. Gleichzeitig gebe es aber gar keine Semiten: »Es gibt semitische Sprachen, aber keine Bevölkerungsgruppen.«

Also alles eine Frage der Begrifflichkeit? Nicht ganz. Die jüngste, sehr direkte Erfahrung vieler Juden in Deutschland im »furchtbaren Sommer 2014«, als auf den Straßen antisemitische Parolen gebrüllt wurden, bringt Sabena Donath auf den Punkt: »Die Salonfähigkeit des Antisemitismus drückt sich auch darin aus, dass die Hassmails und Facebook-Kommentare jetzt mit vollem Namen gepostet werden. Das ist noch nicht lange so, und das ist Teil unserer Realität in Deutschland.«

Verlagerung Donath bringt die »Gruppe der Unwissenden und Ignoranten« ins Spiel, worauf Zimmermann bemerkt: »Die Gruppe der Unwissenden und Ignoranten liegt bei ungefähr 99 Prozent. Und warum sind die Sündenböcke einer frustrierten Gesellschaft nicht einmal die Radfahrer oder die Brillenträger?« Das stößt auf Beifall wie Ablehnung. Was im Moment geschehe, sei die weitgehende Verlagerung rassistischen Denkens und Handelns auf andere Gruppen, heißt es jetzt auf dem Podium. »Ein Jude wird beschimpft, nicht weil er Jude ist, sondern weil er Russe ist, also Fremder«, sagt Dmitrij Belkin und fügt sarkastisch hinzu: »Hurra, endlich mal was anderes.«

Ein Begriff und seine Geschichte. Am Ende, schließt Moshe Zimmermann, hätten sich die Zeiten doch geändert. »Vor 100 Jahren war der Antisemitismus gleichbedeutend mit der Lösung aller sozialer Problemfragen. Das ist heute nicht mehr so.«

Berlin

Kulturausschuss lädt Dirigenten Lahav Shani zu Gespräch ein

Die Konzert-Absage an den israelischen Dirigenten sorgt für Kritik - und für Gesten der Solidarität. Nach einem Konzert in Berlin macht auch der Kulturpolitiker Sven Lehmann eine Ansage

 16.09.2025

Nach Absage in Belgien

Dirigent Shani in Berlin gefeiert

Nach der Ausladung von einem Festival werden die Münchner Philharmoniker und ihr künftiger Chefdirigent Lahav Shani in Berlin gefeiert. Bundespräsident Steinmeier hat für den Fall klare Worte

von Julia Kilian  15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Bremen

Seyla Benhabib erhält den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken

Die Jury würdigte Benhabib als »herausragende politische und philosophische Intellektuelle«

 15.09.2025

Eurovision

Israel hält nach Boykottaufrufen an ESC-Teilnahme fest

Israel will trotz Boykott-Drohungen mehrerer Länder am Eurovision Song Contest 2026 teilnehmen. Wie andere Länder und Veranstalter reagieren

 15.09.2025

Antisemitismusskandal

Bundespräsident trifft ausgeladenen Dirigenten Shani

Nach dem Eklat um eine Ausladung der Münchner Philharmoniker in Belgien hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den künftigen israelischen Chefdirigenten Lahav Shani ins Schloss Bellevue eingeladen

von Anne Mertens  15.09.2025

Literatur

Ein Funke Hoffnung

Rafael Seligmann hält Deutschland derzeit nicht für den richtigen Ort einer Renaissance jüdischen Lebens. Trotzdem gibt er die Vision nicht auf. Ein Auszug aus dem neuen Buch unseres Autors

von Rafael Seligmann  15.09.2025

Los Angeles

»The Studio« räumt bei den Emmys 13-fach ab

Überraschende Sieger und politische Statements: Ausgerechnet eine jüdische Darstellerin ruft eine israelfeindliche Parole

von Christian Fahrenbach  15.09.2025

Freiburg im Breisgau

»Keine Schonzeit für Juden«: Neues Buch von Rafael Seligmann

Antisemitismus, der 7. Oktober 2023, ein Umzug von Tel Aviv nach München in den 1950er Jahren und ein bewegtes Leben: Der Historiker streift und vertieft in seinem aktuellen Werk viele Themen

von Leticia Witte  15.09.2025