Dieses Buch hätte jeder von uns jüdischen Autoren und Journalisten in diesem Land schreiben sollen. Haben wir aber nicht. Darüber sollten wir, die es nicht geschrieben haben, uns allesamt ärgern.
Schließlich liegt alles, was in 31 Einzeltexten dort geschrieben steht, doch auf der Hand: sekundärer, unterschwelliger Antisemitismus, die unterschiedlichsten Ammenmärchen rund ums Thema Palästina, mediale Ungerechtigkeiten gegen Israel, die mangelnde Sensibilität nichtjüdischer Deutscher, die Selbstermächtigung der Täternachfahren über die Opfererben, wenn es um das »richtige« Gedenken an die Schoa nach deutscher Lesart geht – alles wohlbekannte Übel, mit denen sich die deutsche Judenheit im Alltag herumplagen muss.
selbsthass Die Chansonsängerin und Schauspielerin Sandra Kreisler, Amerikanerin und gebürtige Münchnerin, schreibt ein schönes, eigenwillig-klares, durchaus durch ihre österreichische Herkunft verziertes Feuilleton-Deutsch. Das fällt immer wieder auf, etwa in dem Text »Juden, Jesus Style«, in dem es um jüdischen Selbsthass geht und der ihren ersten Besuch in Israel schildert.
»Ich wurde sehr schnell«, heißt es da, »von einem höchst unerwarteten Gefühl eingenommen: Alle sahen irgendwie aus wie ich, sie benahmen sich wie ich, ich erkannte überrascht die gesamte Mentalität in mir wieder. Völlig ohne Sprachkenntnisse fühlte ich mich trotz der orientalischen und total unbekannten Welt sofort wie ein Fisch im Wasser. Und das Verblüffendste daran war: Erst durch diese Wahrnehmung fiel mir so richtig auf, wie viel Fremdheit ich in meiner eigentlichen ›Heimat‹, also im deutschsprachigen Raum, doch erlebe. Im Gegensatz zur, sagen wir, ›fremden Bekanntheit‹, die ich in Israel spürte, ist es hier in Deutschland, der Schweiz oder Österreich aber eine ›bekannte Fremdheit‹, eine eigenartige, fast unsichtbare Form der Andersheit, die man mit sich herumträgt und bewusst gar nicht so mitkriegt.«
MENTALITÄT Und in einer Fußnote, die beschreibt, was sie mit der Mentalität meint, die sie in sich wiedererkannte, heißt es unter anderem: »Die verblüffendste und zu-hause-machendste Erfahrung für mich aber war, wie die Menschen in Israel nicht nur unbedingte Individualisten sind, sondern zugleich auch der Gemeinschaft voll und ganzen Herzens angehören.«
Eine klügere und prägnantere Definition und Deutung jenes »Nach-Hause-Kommens«, das wohl jeder Jude bei der (ersten) Ankunft in Israel erfährt, ist lange nicht zu Papier gebracht worden.
Eine klügere und prägnantere Definition und Deutung jenes »Nach-Hause-Kommens«, das wohl jeder Jude bei der (ersten) Ankunft in Israel erfährt, ist lange nicht zu Papier gebracht worden.
Dabei formuliert Sandra Kreisler zwar in einer wie oben zitierten schönen Sprache, gleichwohl besteht ihre Textsammlung doch eher aus einer Stilform, die man vorrangig im amerikanischen Raum vorfindet: dem Rant.
Ein Rant ist wörtlich übersetzt eine Tirade, ein Wutausbruch. Literarisch betrachtet hat er große Vorgänger, wie es Daniel Seidel 2007 so treffend unter der Überschrift »The Lost Art of the Rant« in der Zeitschrift »Slate« beschrieb: »Während es viele Beispiele literarischer Rants gibt – man denke nur an Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Becketts rasende, schonungslos-schöne Monologe oder Philip Roths eloquente Hetzreden –, waren Rants doch eher Teil einer mündlichen Tradition, perfektioniert in Kneipen, an Straßenecken und in rauchgeschwängerten Comedy Clubs.« Jetzt, so folgert Seidel 2007, habe der Rant seine Renaissance durch das Internet erfahren.
PODCAST Es ist deshalb kein Zufall, dass einige der Texte aus Jude sein bereits vorher als Episoden in Sandra Kreislers höchst empfehlenswerter Podcast-Reihe »Geschüttelt und berührt« publiziert wurden. Und in gesprochener Form vermittelt sich das Stilmittel des Rants vielleicht sogar noch besser als in dieser 31-teiligen Anthologie des gerechten Zorns.
Im namensgebenden Text »Jude sein« definiert Sandra Kreisler in vier Absätzen das Besondere am Jüdischsein: »Eine der Besonderheiten der jüdischen Mentalität, auf die man immer wieder trifft, ist ein eigenartiger Kontrast – nämlich das Gegensatzpaar der besonderen Sturheit bei maximaler Flexibilität.«
Stilmittel dieser Anthologie des gerechten Zorns ist der Rant.
Und weiter: »Lassen Sie mich erklären. Zunächst muss man sich darüber klar sein, dass das israelitische Volk wirklich und wahrhaftig das einzige Volk der Welt ist, das seit seiner Entstehung – immerhin rund 5000 Jahre vor unserer Zeitrechnung – bis heute durchgehend dieselbe Sprache, und dieselbe Religion und – zumindest in Teilen – dieselbe Weltgegend ihr Eigen nennt, und nicht um die Burg davon abrücken will.
Das ist schon recht stur, finde ich.
Aber dann ist da noch eine Konstante, ebenfalls über die gesamte Dauer der Existenz der Israeliten hinweg, und die ist so ziemlich das Gegenteil des vorher Gesagten: Denn eine der grundlegenden Eigenschaften dieser Volks- und Glaubensgemeinschaft ist, dass sie von Geburt an und bis heute immer ein, nun sagen wir: Vielvölkervolk waren.«
ausweichorte Das ist brillant und präzise, so wie eigentlich alle Texte in dem Buch. Kritik ist nur am Lektorat anzubringen. Die vielen Fußnoten, die sicherlich auch die Ernsthaftigkeit des Sujets glaubhaft transportieren sollen, sind allzu oft Ausweichorte für weitere Gedanken der Autorin, die im Haupttext aus Umfangsgründen anscheinend keinen Platz fanden.
Und dass eine Presseagentur »dpd« wegen israelfeindlicher Berichterstattung mehrfach vom Presserat gerügt worden sei, hätte nicht durchrutschen dürfen. Der dpd (Deutscher Pressedienst) ging 1949 in der dpa auf; der vielleicht gemeinte ddp (Deutscher Depeschendienst) wurde 2010 zum dapd – und ging 2013 pleite. Auch, dass Konstantin Wecker für Saddam Hussein als »menschliches« statt »menschlicher Schutzschild« firmierte, ist ein ärgerlicher Lapsus.
Den Gesamteindruck dieses Buches, das wir alle gerne geschrieben hätten, vermag das allerdings nicht zu trüben. Dafür sind Wucht und Wirkung zu groß – hoffentlich auch in die nichtjüdische Welt hinein.
Sandra Kreisler: »Jude sein. Ansichten über das Leben in der Diaspora«.
Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2021, 246 S., 18 €