Zeitgeschichte

Genie der Freundschaft

Vor 30 Jahren starb die russisch-jüdische Intellektuelle und Amerikanistin Raissa Orlowa-Kopelew

von Marko Martin  31.05.2019 10:05 Uhr

Raissa Orlowa-Kopelew und Lew Kopelew auf der Frankfurter Buchmesse 1985 Foto: imago stock&people

Vor 30 Jahren starb die russisch-jüdische Intellektuelle und Amerikanistin Raissa Orlowa-Kopelew

von Marko Martin  31.05.2019 10:05 Uhr

Als am 31. Mai 1989 Raissa Orlowa-Kopelew ihren Kampf gegen den Krebs verloren hatte, sang Wolf Biermann bei der Beerdigung in Köln eines ihrer Lieblingslieder, die Ballade »Ich bleib’ immer die ausm Osten«. Das ursprünglich Eva-Maria Hagen gewidmete Lied erzählte von früher Renitenz ebenso wie von skrupulöser Beobachtung der West-Wirklichkeit; im Fall der russisch-jüdischen Intellektuellen Orlowa-Kopelew kam indessen noch eine selbstlose Güte hinzu und eine bei allem Selbstbewusstsein vollkommen fehlende Ich-Bezogenheit.

Deportation Geboren 1918 in Moskau als Raissa Liberson war sie lange Zeit im Wortsinn ein »Kind der Sowjetunion« gewesen, enthusiastische Studentin und Komsomolzin und dann bei Weltkriegsbeginn überzeugtes Parteimitglied. Aber die tief eingegrabenen Sorgenfalten im Gesicht des Vaters, der ab Mitte der 30er-Jahre erfahren musste, wie seine Bürovorgesetzten plötzlich verhaftet und als »Volksfeinde« in Straflager deportiert oder sogleich erschossen wurden?

Die Tochter verdrängte sie in der Trauer um ihren ersten Ehemann, der gleich zu Kriegsbeginn im Kampf gegen die Nazi-Invasoren gefallen war. Als danach in der Spätphase von Stalins Herrschaft die antisemitischen Kampagnen gegen »Zionisten und Kosmopoliten« begannen, trug die Amerikanistin dann bei Parteiversammlungen sogar pflichtschuldig ihr rhetorisches Scherflein bei. Bis sie den ehemaligen Gulag-Häftling Lew Kopelew kennenlernte, einen jüdischen Germanisten und Zellengenossen Alexander Solschenizyns.

DISSIDENTEN 1956 schien mit Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der Bruch mit dem Stalinismus vollzogen. Obwohl dieser strukturell weiterwucherte – auch wenn jetzt nicht mehr Millionen zu Tode kamen, sondern »nur« noch Dissidenten in Lager gesperrt wurden. Ihnen aber half das Moskauer Intellektuellenpaar Kopelew mit Rat und Tat, nicht zuletzt in Anerkenntnis der eigenen, einst gehegten Illusionen. Auf konkrete, unprätentiöse Weise galt es etwas gutzumachen – ganz gleich, ob Hilfe für Ausreisen nach Israel oder in die USA zu akquirieren waren, Manuskripte geschmuggelt werden mussten oder ganz einfach Präsenz gezeigt wurde bei der Beerdigung des Dichters und Literaturnobelpreisträgers Boris Pasternak, der in seinen letzten Lebensmonaten vom Regime erneut mit judenfeindlichen Unterstellungen denunziert worden war.

Die Kopelews halfen Regimekritikern – bis sie selbst ausgebürgert wurden.

Die Kopelews waren in ihrem Engagement nicht allein. Vor allem Annemarie und Heinrich Böll, die seit den 50er-Jahren regelmäßig nach Moskau kamen, leisteten eine Hilfe, die noch heute jeden Nachgeborenen, der sich kalt-spöttisch über den »Gutmenschen Böll« auslässt, vor Scham verstummen lassen müsste.

AUFWACHEN Als Raissa und Lew Kopelew schließlich auf Befehl des damaligen KP-Chefs Breschnew 1981 aus der Sowjetunion ausgebürgert wurden, fanden sie nicht zufällig in Köln eine neue Heimat. Wir Leser wissen von alldem durch Raissa Orlowa-Kopelews packende Bücher, unverzichtbares Pendant zu den Lagererinnerungen ihres Mannes.

Eine Vergangenheit, die nicht vergeht ist ebenso wie der Band Wir lebten in Moskau eine Jahrhundertgeschichte, die von intellektuellem Selbstbetrug und darauffolgendem Aufwachen auf eine derart stille und nachdenkliche Weise erzählt, die noch heute eine Lektion in angewandtem Humanismus sein könnte. Als Raissa Orlowa-Kopelew bereits todkrank war, konnte sie zumindest noch von Gorbatschows Reformen erfahren und sogar noch einmal besuchsweise nach Moskau zurückkehren.

Den Mauerfall hat sie bereits nicht mehr erlebt, doch ihr dem Krebsleiden abgerungenes Buch Die Türen öffnen sich langsam wurde zu einer Art Testament, zur Beschreibung des Westens aus antitotalitär östlicher Perspektive – ein aktuell gebliebener Augenöffner, weil er hiesiger Ignoranz nicht mit Ausrufe-, sondern mit Fragezeichen begegnet. Raissa Orlowa-Kopelew, Genie grenzüberschreitender Freundschaft, muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein. Uns bleiben zumindest ihre Bücher.

München

Münchner Amerikahaus zeigt Bilder der US-Fotografin Lee Miller

Kate Winslet setzte Lee Miller mit »Die Fotografin« ein filmisches Denkmal. Einen Einblick in Millers herausragendes Werk gibt nun eine Münchner Schau.

 05.02.2025

Los Angeles

Adrien Brody: Kim Kardashian jagte mein Internet in die Luft

Adrien Brody kann für seine Rolle in »Der Brutalist« auf einen zweiten Oscar hoffen. Große Aufmerksamkeit bekam er zuletzt auch wegen eines Projekts, in dem er gar nicht mitspielt

 04.02.2025

Kulturkolumne

Die Willkür von Symbolen

Gedanken zu Swastika, Hakenkreuz und roten Dreiecken in Fernost

von Laura Cazés  04.02.2025

Kassel

Documenta-Gesellschaft veröffentlicht Verhaltenskodex

Die Weltkunstschau trete »jeder Form von Antisemitismus, Rassismus und jedweder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« aktiv entgegen, heißt es darin

 03.02.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von wegen Laufmaschen: Geschichten aus Strumpfhausen

von Nicole Dreyfus  03.02.2025

Eurovision

Der traurigste Tanz der Welt

Yuval Raphael überlebte den Nova-Rave am 7. Oktober. Nun vertritt sie Israel beim Song Contest

von Sabine Brandes  02.02.2025

Aufgegabelt

Jerusalemer Bagel

Rezepte und Leckeres

 02.02.2025

TV-Tipp

Paul Newman im großen Arte-Themenabend

Spielerdrama »Die Farbe des Geldes« und Doku über den US-Filmstar

 01.02.2025

Kultur

Uraufführung des Oratoriums »Annes Passion«

Über die Darstellung von Anne Frank in veschiedenen Kunstformen streiten Historiker und Autoren seit mindestens 70 Jahren. Das Oratorium von Evgeni Orkin entfacht die Kontroverse neu

von Valentin Schmid  31.01.2025