Er war einer der wichtigsten jüdischen Theologen des 19. Jahrhunderts und brachte die akademische Rabbinerausbildung voran: Abraham Geiger. Anders als die traditionellen Talmudschulen ging Geiger historisch-kritisch an die Texte heran. Das bedeutet: Die Tora ist nicht mehr gottgegeben, sondern von Menschen in einer bestimmten Zeit geschrieben. Auch für Christentum und Islam sind Geigers Thesen wichtig: Er zeigte die Verwandtschaft der Religionen und formulierte, was an Religion gut und was schädlich ist: Richtig verstandene Religion führe zu moralischem Handeln. Fundamentalismus war ihm genauso zuwider wie Religion als Herrschaftsinstrument.
Geigers Hauptforderung lautet: Selbst entscheiden, nicht die Entscheidungen anderer übernehmen. Das Judentum ist für ihn eine Religion der Ethik. Nicht, was die Tradition vorschreibt, ist ausschlaggebend, sondern die moralische Entscheidung des Einzelnen. Ein krasser Widerspruch zum orthodoxen Judentum, damals wie heute. Das jüdische Gesetz, die Halacha, ist für orthodoxe Juden bindend und lässt sich kaum verändern: Am Samstag auf einen Lichtschalter zu drücken, sich etwas aufzuschreiben oder ein Auto zu benutzen, verstößt für sie gegen das Gebot der Schabbatruhe. Für Geiger ist die Halacha hingegen nur wichtig, wenn die Regeln moralisches Verhalten unterstützten. Unverstandene Verhaltensregeln seien sogar schädlich. Gedanken, auf die sich liberale Juden bis heute berufen.
pionier »Geiger ist einer der großen Wegbereiter des liberalen Judentums«, sagt Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam. »Geiger ist als Pionier der jüdischen Emanzipation aber immer für die Einheitsgemeinde eingetreten«, fügt Homolka hinzu. »Und sein Ziel der akademischen Rabbinerausbildung an der deutschen Universität bleibt bis heute vorbildlich. Deshalb sollten sich alle Juden seines Geburtstages erinnern.«
Ein Leben lang hatte Geiger schlechtere Chancen als christliche Deutsche. Ungewöhnlich lange war er verlobt, bevor er heiratete: sechseinhalb Jahre. Aus einfachem Grund: Nur zwei jüdische Paare pro Jahr durften in Frankfurt am Main heiraten. Professor an einer deutschen Hochschule hätte Abraham Geiger nicht werden können. Denn für die Habilitation war die Taufe notwendig.
talmud und koran Am 24. Mai 1810 wird Geiger als Sohn eines Vorbeters in Frankfurt am Main geboren. Er studiert in Heidelberg und Bonn. Mit 22 beantwortet er auf Lateinisch die Preisfrage der Universität Bonn nach den jüdischen Quellen des Korans. Geigers Arbeit wird prämiert. Später veröffentlicht er sie, unter dem Titel: Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Neu ist, dass Geiger den Islam nicht abwertet: Deutsche Orientalisten vor seiner Zeit hielten Mohammed für einen Betrüger, für einen falschen Propheten. Geiger zeigt, wie nah der Koran jüdischen Schriften wie dem Talmud ist. Er spricht mit großer Sympathie vom heiligen Buch der Muslime und klammert die Frage nach der echten oder falschen Prophetie schlicht aus. Für die Arabistin Angelika Neuwirth von der Freien Universität Berlin ist Geiger der »Gründervater« der kritischen Koranforschung: Sein Verdienst bestehe darin, dass er den Koran in seinen spätantiken Kontext einordne.
Glaube und Wissenschaft In Marburg reicht Geiger seine Koranstudie als Doktorarbeit ein. Vom dortigen orthodoxen Rabbiner erhält Geiger die Smicha. Er arbeitet als Rabbiner in Wiesbaden, später über zwei Jahrzehnte in Breslau, schließlich – nach einem Intermezzo in Frankfurt am Main – in Berlin. Wissenschaft und Gemeindearbeit greifen ineinander. Als Rabbiner versucht Geiger die Erkenntnisse umzusetzen, die er als Forscher erlangt. Allerdings ist er mit den Neuerungen im Synagogenleben behutsam, setzt nur durch, was die Gemeinden mittragen konnten.
Geiger bringt die akademische Rabbinerausbildung voran. In Breslau setzt er sich dafür ein, dass das weltweit erste akademische Rabbinerkolleg seine Pforten öffnet. Doch leiten darf er es nicht, weil er den Initiatoren zu progressiv ist. In Berlin gründet er später die »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums« und wird deren Rektor. Hinter Geigers Forderung nach einer »jüdisch-theologischen Fakultät« an deutschen Hochschulen steht der Gedanke, dass das Judentum dieselbe Stellung haben sollte wie das Christentum.
Jesus Als Jesusforscher zeigt Geiger Stärken und Schwächen des Christentums auf. Damit demonstriert er Selbstbewusstsein gegenüber der christlichen Gesellschaft. Christliche Theologen wollen das Offensichtliche nicht gerne hören: dass Jesus ein Jude war. Geiger zeigt, dass Jesus einer wichtigen jüdischen Laienbewegung nahestand: den Pharisäern. Mit späteren christlichen Inhalten kann Geiger hingegen wenig anfangen: mit der Jungfrauengeburt, mit der Dreieinigkeit, mit dem Gott am Kreuz, mit der Auferstehung Jesu. Geigers Vorwurf: Diese Gedanken weichten den Monotheismus auf und seien Rückschritte im Vergleich zum Judentum.
Am 23. Oktober 1874 starb Geiger in Berlin. Seine »Lehranstalt« und spätere »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« bestand bis 1942, als sie die Nazis schlossen.