Das erste Konzert des russischen Dirigenten Kirill Petrenko als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker ist am Freitagabend mit einem minutenlangen Beifall vom Publikum in der voll besetzten Philharmonie gefeiert worden. Mit Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 9 hatte sich Petrenko zu seinem Debüt auch einen Herzenswunsch erfüllt: Das Werk mit dem Schlusschor über Friedrich Schillers »Ode an die Freude« enthalte alles was die Menschheit auszeichne – das Gute genauso wie das Böse, hatte der 47-jährige Dirigent vor dem Konzert gesagt.
Am Samstag wurde die Sinfonie vor dem Brandenburger Tor aufgeführt. Das Konzert war Teil der Feiern zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Rund 35.000 Zuhörer kamen zu der Aufführung unter freiem Himmel auf die Straße des 17. Juni. Es war das erste Konzert in der Geschichte der Philharmoniker vor dem Brandenburger Tor.
maestro Mit Petrenko als dem siebten Chefdirigenten in der Orchestergeschichte beginnt für die Philharmoniker eine neue Ära. Nach dem britischen Sonnyboy Simon Rattle bekommen die Berliner einen eher öffentlichkeitsscheuen, auf den ersten Blick zurückhaltenden Maestro. Bis Mitte 2020 bleibt er auch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.
Bis Mitte 2020 bleibt Petrenko auch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.
Dabei war der Neue nicht unbedingt die erste Wahl für den Spitzenjob im europäischen Musikbetrieb. Erst im zweiten Wahlgang hatten sich die Philharmoniker im Juni 2015 auf ihn geeinigt. Bis dahin hatte Petrenko die Philharmoniker nur drei Mal dirigiert. Doch als er dann zu seinem ersten Gastauftritt nach der Ernennung nach Berlin kam, wurde für alle hör- und sichtbar, warum sich die 128 Philharmoniker mehrheitlich für ihn entschieden hatten.
Ob Mozarts Haffner-Symphonie oder Tschaikowskys Fünfte – die Werke, die Petrenko mit den Philharmonikern aufführte, lösten stets rauschenden Beifall aus, die Philharmonie stand jedes Mal Kopf. Unter Klassikfans herrscht seitdem der Petrenko-Hype.
dirigent des jahres Der 47-Jährige ist kein Unbekannter in Berlin. Bis 2007 war er Generalmusikdirektor an der Komischen Oper, wo er große Erfolge feierte. Mit 35 Jahren wurde er vom Fachblatt »Opernwelt« zum »Dirigenten des Jahres« gewählt, den Titel holte er sich 2015 ein weiteres Mal.
In Berlin tritt er in die Fußstapfen von Philharmoniker-Chefs wie Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan und Claudio Abbado. »Man kann es gar nicht in Worte fassen, was in mir gefühlsmäßig vorgeht: von Euphorie und großer Freude bis zu Ehrfurcht und Zweifel ist da alles drin«, hatte er nach seiner Wahl gesagt.
Der 1972 im sibirischen Omsk geborene Musiker zog 1990 mit seinen Eltern nach Österreich. Nach einem Konzertexamen als Pianist ging er zum Dirigierstudium nach Wien. Danach wurde er Kapellmeister bei der Wiener Volksoper, mit 27 Jahren dann Generalmusikdirektor in Meiningen, seine »Lehrjahre«, wie er sagt. Dort dirigierte er an vier Tagen hintereinander einen aufsehenerregenden Ring, den er 2013 dann auch in Bayreuth (mit Frank Castorf als Regisseur) einstudierte.
erwartungsdruck Petrenko ist sich der hochgesteckten Erwartungen bewusst. »Ich war immer wieder einem solchen Druck ausgesetzt« – als zunächst unbekannter Dirigent in Meiningen, später an der Komischen Oper »im eisigen Berliner Winter« und danach in München. »Wir müssen mit diesem Erwartungsdruck umgehen können.«
Die Philharmoniker seien aber für ihn eine »Energiequelle« – er müsse lernen, damit umzugehen und sie zu steuern. Tatsächlich hat Petrenko bisher gezeigt, wie geschmeidig – und trotzdem bestimmt – er das Orchester an sich binden kann.
Mit Detailliebe und Hinwendung führt er die Musiker, von denen es heißt, sie seien 128 Solisten, in den Konzerten. »Dieses Orchester hat eine Glut in sich, die muss man zügeln, um sie dann im richtigen Moment ausbrechen zu lassen«, sagte er in einem Interview für den Online-Kanal der Philharmoniker »Digital Concert Hall«. Die »Sicherung« solle das Orchester erst im Konzert lösen.
fokussierung Ja, sagt Eva-Maria Tomasi, erst im Konzert gehe es bei den Philharmonikern »richtig los«. Die philharmonische Geigerin schwärmt von Petrenkos »großer Fokussierung«, jede Minute in den Proben sei sinnvoll ausgefüllt, er spiele sich nie in den Vordergrund. »Er ist kein Show-Dirigent« und wahre das Gleichgewicht zwischen intellektueller Erfassung der Musik und dem Gefühl.
Auch Solocellist Olaf Maninger sieht Petrenkos Dirigieren als Gleichklang von »Geist, Bauch und Herz«. Auf »geniale Art« verstehe er es, auf das Orchester einzugehen und dessen Stärke hervorzuheben.
Maninger zieht Parallelen zu den letzten Jahren mit Herbert von Karajan. Zwischen Orchester, Dirigent und Publikum habe es damals »geknistert«. Über diesen Erwartungsdruck an Petrenko sei er »wahnsinnig froh«. Schließlich sollten die Menschen aus der Philharmonie »anders rauskommen, als sie reingekommen sind«.