Er wird zurückfahren. Aber sie wird nicht mitkommen. Im Garten der Max-Liebermann-Villa, draußen in Berlin-Wannsee, kommt es zur Aussprache. Das Wetter ist schön, es ist warm, man könnte es sich gut gehen lassen, vordergründig gesehen. Denn Leo Lehmann, einer der Helden in Regina Scheers Roman Gott wohnt im Wedding, hat sich gerade die Ausstellung zur Wannsee-Konferenz angeschaut und ist entsprechend müde und deprimiert und auch erschöpft von dem, was er dort aufbereitet nacherfahren konnte. Und wer weiß, ob er überhaupt noch einmal nach Berlin gekommen wäre, hätte er gewusst, dass seine Enkelin ausgerechnet im Wedding eine Unterkunft buchen würde. Er hätte sie wohl abgesagt: seine letzte Reise noch einmal zurück nach Deutschland.
Leo Lehmann ist 94 Jahre alt, seine Enkelin Nira 23. Was hat Leo gemacht, als er so alt war? Er hat geholfen, Israel aufzubauen, war im Kibbuz, der sein Lebensmittelpunkt werden würde. Nachdem er sich zuvor so lange im Wedding hat versteckt halten müssen; jeden Tag hatte er um sein Leben gebangt, um erst gehen zu können, als die zwölf Jahre des Terrors endlich zu Ende waren.
Der Roman gibt der Enkelgenera tion und jenen, die damals flüchten mussten, eine unverwechselbare Stimme.
VERRAT Man weiß zunächst nicht, wo anfangen, um den zweiten Roman der Historikerin und nun vor allem Schriftstellerin Regina Scheer umfassend zu würdigen. Denn Gott wohnt im Wedding ist ein so vielschichtiger wie praller Berlin-Roman, der Gegenwart und Vergangenheit auf vielen Ebenen miteinander verknüpft: um die Arbeitsmigranten aus Polen und Rumänien geht es, die Roma und Sinti, die sich in Berlin eine Existenz erhoffen. Um die Stadt als Beute geht es, wo Häuser verkauft werden wie Kuchenstücke. Um Leo Lehmanns stellvertretende Geschichte geht es, um Verrat oder den Verdacht des Verrats – denn er hat als Einziger aus seiner damaligen jüdischen Jugendgruppe überlebt.
»Es ist ja nicht alles ausgedacht, von dem ich erzähle«, sagt Regina Scheer, die jahrzehntelang im Osten der Stadt gelebt hat. Bis es sie in den Westteil verschlug, eben in den Wedding, wo sie jahrelang ein biografisches Erzähl-Café geleitet hat, in das von der Bäckerin von nebenan bis zum einstigen Berliner Bürgermeister Walter Momper die Menschen kamen, um aus ihrem Leben zu erzählen.
Recherche ohne Gefühl, ohne Verbundenheit zu den Menschen, da kann es schnell kalt werden – doch nicht in diesem Buch.
VERBUNDENHEIT Aber Recherche ist ja nicht alles. Recherche ohne Gefühl, ohne Verbundenheit zu den Menschen – da kann es schnell kalt werden. Da müssen Fantasie und Erzählkraft hinzukommen. Mittendrin gibt es daher sozusagen eine Erzählung in der Erzählung: Von Jonas wird erzählt, dem Mann von Laila, der Sintiza, die in dem Haus lebt und wohnt, vor dem Leo Lehmann nun so oft steht, obwohl er dort nicht stehen will. Sie leben getrennt, Jonas und Laila, aber sind noch nicht geschieden.
In der Schule haben sie sich kennengelernt, eher gegen ihren Willen war sie von dem ungestümen jungen Mann, dem alles zu gelingen schien, dann doch beeindruckt. Und am Ende gefangen. Doch dann – sie leben längst zusammen, sind verheiratet – taucht Jonas ab in die Archive. Recherchiert über Lailas Familie, veröffentlicht eine Arbeit: »Überlebensstrategien dreier Berliner Sinti-Familien im zeitgeschichtlichen Kontext«. Und Jonas, der eben noch lauschend mit an Lailas großem Familientisch saß, wird bald Experte, Experte für Sinti-Fragen. So kann man fremd bleiben, auch wenn man meint, dass man sich auskennt.
Und so ist Regina Scheers neuer Roman auch ein Emanzipationsroman: Denn die jungen Frauen sind es, die auf ganz eigene Weise den vorgegebenen Mustern ihrer Herkunftsfamilien nicht mehr entsprechen wollen. Laila, die Sozialpädagogik studiert hat, aber nun als Floristin arbeitet und sich für ein Kind entscheidet, das nicht ihres ist, aber ihres werden wird. Da ist Estera, die Romni aus Rumänien, die in Berlin bleiben wird, die nicht das unstete Leben ihrer Eltern fortsetzen und nach Rumänien zurückkehren, sondern etwas Neues riskieren will – auch um den Preis des Verlusts der Familiensicherheit, die ohnehin nur noch begrenzt Halt zu geben scheint.
Nira will für sich ein anderes jüdisches Leben erkunden – wie soll ihr Großvater das verstehen?
VERLUST Und nicht zuletzt ist da Nira, die ihren eigenen Weg einschlagen will, wohin auch immer er sie führt. Denn es ist nicht nur Amir, der freundliche Falafel-Bäcker, wie er tagein, tagaus in seinem kleinen Weddinger Café schuftet, der Nira in Berlin hält. Nira will für sich ein anderes jüdisches Leben erkunden – wie soll ihr Großvater das verstehen?
Regina Scheer sagt: »Gewiss spielen die Familiengeschichten eine Rolle; dass eine junge Generation an Israelis nun nach Berlin kommt, um sich zurückzuholen, was ihren Eltern und Großeltern weggenommen wurde.« Sie hat diesem Prozess der Wiederannäherung der Enkelgenera tion derer, die damals gehen mussten und die entkommen konnten, eine unverwechselbare Stimme gegeben.
Regina Scheer: »Gott wohnt im Wedding«. Penguin, München 2019, 416 S., 24 €