Christian Boltanski

Gegen Vergessen und Verdrängen

Christian Boltanski (1944–2021) in seinem Atelier Foto: dpa

Wie kann man als Künstler Spuren tiefer Wunden der Vergangenheit hinterlassen? Diese Frage hat sich der Franzose Christian Boltanski als Sohn eines jüdischen Vaters vor mehr als 40 Jahren gestellt.

Seine Antwort darauf sind Installationen aus abgenutzten Kleidern, rostigen Kisten mit Registriernummern und anonymen Fotos, die um die Themen Holocaust, Vergänglichkeit, Tod und Erinnerung kreisen. Seitdem beschäftigt sich Boltanski, der an diesem Freitag 75 Jahre alt wird, mit Erinnerungskunst. Mit ihr kämpft er weltweit gegen Vergessen und Verdrängen.

mahnmal Wie in Völklingen an der Saar. Dort wurde im vergangenen Herbst im ehemaligen Eisenwerk ein Mahnmal eingeweiht: ein Kleiderhaufen, umgeben von unzähligen Archivkästen mit Nummern.

Boltanski ist ein vielfach ausgezeichneter Künstler. Seine Gedächtniskunst ist weltweit bekannt.

Mit seiner Dauerinstallation in der auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste stehenden Völklinger Hütte soll an Tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen erinnert werden, die dort unter unwürdigen Bedingungen arbeiten mussten. Vor wenigen Monaten wurde dort auch die Ausstellung Erinnerungen, Souvenirs, Mémoires gezeigt – über 90 Spinde in der Erzhalle des Eisenwerks, die diese Menschen aus der Vergessenheit reißen sollen.

Boltanski ist ein vielfach ausgezeichneter Künstler. Seine Gedächtniskunst ist weltweit bekannt. Angesichts der NS-Vergangenheit Deutschlands war der Künstler hier schon früh sehr gefragt.

documenta Er wirkte Mitte der 70er-Jahre auf der documenta in Kassel mit. Eine ständige Rauminstallation entwarf er in den 90er-Jahren im Neubau der Berliner Akademie der Künste. Bei der Ruhrtriennale 2005 leitete er in Essen in der Kokerei des Weltkulturerbes Zeche Zollverein gemeinsam mit Andrea Breth und Jean Kalman das Projekt »Nächte unter Tage«, das aus Kleiderballen bestand, die von Arbeitern immer wieder neu geordnet wurden, und Mänteln, die sich an Transportbändern bewegten.

Zu Mauern aufgebaute Metallkästen, nackte Glühbirnen, die von der Decke hängen, kaltes Licht, Stapel von getragenen und ungetragenen Kleidern: Requisiten, die auf anonyme Menschen und Schicksale verweisen, mit denen Boltanski gegen ihr Vergessen kämpft.

Die Grausamkeit der Schoa sei es gewesen, die Identität der Menschen verschwinden zu lassen, indem man ihnen Nummern gab und keine Namen mehr, sagte er in einem Interview mit dem Saarländischen Rundfunk. Um ihnen das Leben zurückzugeben, werden in seinen Installationen oft ihre Namen geflüstert.

autodidakt Der Konzeptkünstler, Fotograf und Bildhauer ist Autodidakt. Anfänglich widmete er sich der Malerei, bis er Ende der 60er sein Gedächtniswerk schuf, das auf Emotionen basiert und zutiefst menschlich ist, abseits von großen Theorien. Seit 2008 verfolgt er das Projekt »Les archives du coeur«, Herzschläge von Menschen aus aller Welt, die er aufzeichnet und archiviert. Boltanski ist mit der französischen Künstlerin Annette Messager verheiratet.

Boltanski wäre ohne seine persönliche Geschichte womöglich nie das geworden, was er heute ist. Denn seine Überzeugung lautet: Künstler zu sein, heißt, seine eigenen Ängste zu verarbeiten.

Boltanski wäre ohne seine persönliche Geschichte womöglich nie das geworden, was er heute ist.

Blickt man auf Boltanskis Kindheit, erahnt man, warum er zu diesem Credo gekommen ist. Er wurde kurze Zeit nach der Befreiung als Sohn eines jüdischen Vaters in Paris in einer Familie geboren, die auch nach dem Krieg unter dem Trauma von Verfolgung und Denunziation litt.

holocaust Alle Freunde seiner Eltern seien Überlebende des Holocaust gewesen, sagte er in einem Interview mit der französischen Wochenzeitung »L’Express«. Das sei zu Hause das immerwährende Gesprächsthema gewesen.

Wie er von seiner Mutter später erfuhr, hatte sie damals allen erzählt, dass sein Vater verschwunden war. Tatsächlich blieb er fast zwei Jahre unter dem Boden ihrer Wohnung versteckt. »Ich hatte eine seltsame Kindheit, sehr beschützt und voller Angst«, erzählte er der Zeitschrift weiter.

Heute setzt sich Boltanski aber auch immer mehr mit seinem eigenen Tod auseinander – wie in »Letzte Sekunde«, eine riesige Digitalanzeige, die die Sekunden seines Lebens zählt. Sie wird mit seinem Tod aufhören.

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025