Wenn Sie mein Wohnzimmer betreten, erblicken Sie, über dem Kaminsims verteilt, eine kuratierte Sammlung identischer Gläser. Was wie eine Kunstinstallation wirken mag, sind Gläser gefüllt mit Erde, Steinen und Überbleibseln. Jedes dieser Gefäße voller Erde ist ein Erinnerungssplitter, der eine Geschichte erzählt.
Als Tochter von Schoa-Überlebenden habe ich den größten Teil meines Lebens mit Schweigen anstelle von Familiengeschichten gelebt. 2009 schließlich hatte ich die Möglichkeit und den Mut, in die Schtetl der Westukraine zu fahren, wo meine Familie gelebt hat und wo sie ermordet wurde – eine Gelegenheit, das Schweigen meiner Vergangenheit auszufüllen.
Reise Ich war bestrebt, auf dieser Reise in die Heimat meiner Vorfahren etwas mitzunehmen, was ich dort lassen könnte – etwas von mir, etwas von unserer Familie, die überlebt hatte.
Also entschied ich mich für unser jährliches Familienfoto mit Kindern, Ehepartnern, Enkeln. Ich wollte aber auch etwas Greifbares von diesen Orten mitbringen, mit zu mir zurück, das über die Geschichten hinausgehen würde, die ich später in einem Buch niederschreiben würde.
An jedem der fünf Massengräber, die ich besuchte, in jedem der fünf Schtetl, in das ich fuhr, begrub ich ein Familienfoto, nachdem ich Kaddisch gesagt hatte. Das Bild lag nun in der Erde, in der meine Urgroßmutter, meine Tanten und meine Cousins ein Grab hatten.
Ich beugte mich vornüber und nahm mit meinen Händen aus jedem Grab etwas Erde, die ich in meine einzeln beschrifteten Plastiktütchen füllte. Für mich war das ein Stück geheiligter Boden aus der Welt meiner Vorfahren, den ich nun mit zu mir zurücknehmen konnte, den ich in meinen Koffer und - schlussendlich - in meine Erinnerungsgläser packen konnte.
Lysche Im Dorf Lysche, wo mein Vater mit seiner ersten Frau und seiner Tochter, die in einem benachbarten Dorf ermordet wurden, lebte, gab es keine Massengräber. Nur ein paar Dutzend übrig gebliebene Häuser.
Eine der Bewohnerinnen deutete auf das Haus, in dem mein Vater mit seiner Familie gelebt hatte, und auf den immer noch existierenden Birnbaum, hinter dem das Haus stand. Sie sagte, dieser Birnbaum sei das Einzige, was aus der Zeit vor dem Krieg übrig sei. Der einzige Überlebende war also der Baum, und mit dem stärksten Bild, Früchte zu tragen, lebte er weiter. Alles drum herum war niedergebrannt und zerstört worden, aber dieser Baum war da: Wurzeln, Stamm, Blätter, Früchte, sogar sein Schatten.
Ich stellte mir sofort meine Halbschwester vor, deren Name ich immer noch nicht kenne, wie sie Birnen von diesem Baum isst. Ich konnte nicht anders. Ich öffnete die kleine Plastiktüte und fing an, sie mit Blättern dieses Baumes zu füllen. Unsere ukrainischen Gastgeber sahen still zu, fragten sich vielleicht, warum diese verrückte Amerikanerin so besessen Blätter von einem Baum riss.
Selbst meinem ältesten Sohn, der mich auf dieser Reise begleitete, war das etwas peinlich. Aber er kennt ja seine Mutter und weiß, dass man mich ohnehin nicht hätte davon abhalten können. Die Blätter, die mittlerweile zusammengeschrumpelt sind, sind auch in einem meiner wertvollen Erinnerungsgläser. Näher als mit diesen Blättern konnte ich meiner ermordeten Halbschwester, von der ich kurz vor meiner Reise überhaupt nicht wusste, dass es sie gibt, nicht kommen.
Andacht Israelis erinnern sich einmal im Jahr mit Sirenen an die Schoa. Der Verkehr hält an, Menschen steigen aus ihren Autos aus und bleiben in stiller Andacht stehen. Es gibt Gottesdienste und sogar einen Seder mit einer besonderen Haggada.
Wir haben Bücher, Überlebende und, wie in meiner Familie, Erinnerungen der zweiten Generation, wir haben Holocaust-Literatur der dritten Generation. Wir entzünden Kerzen, wir ringen mit der Frage, wie wir unsere »erworbene Erinnerung« zukünftigen Generationen weitergeben können.
Auch ich habe das getan, und ich habe meine Gläser voller Erde, meine Gläser voller Erinnerungen. Dies sind meine greifbaren Erinnerungen. Werden sie außer mir noch jemand anderem etwas bedeuten?
Kürzlich fragte mich einer meiner Söhne, ob ich ihm die Gläser hinterlassen würde.
Übersetzung: Katrin Richter
Esther Safran Foer: »Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind.« Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 288 S., 22 €