Kanada hat mit mehr als 200.000 Kilometer die längste Küste aller Länder der Welt. Der Sommer ist kurz und der Winter b...b...b...bibberkalt. In Winnipeg gelten dann minus 40 Grad als normale Tagestemperatur. Dafür ist der kanadische Ahornsirup lecker. Und in der kanadischen Wildnis leben bis zu 400.000 Braunbären.
Eine weitere Spezies für die Kanada bekannt ist: Vollblutmusiker. Viele Barden und Instrumentalisten, die zumeist für US-Amerikaner gehalten werden, kommen oder kamen aus dem nördlichsten Land des amerikanischen Kontinents, darunter der grandiose Gino Vannelli und Kollegen wie K.D. Lang, Avril Lavigne, Alanis Morissette, Drake, Joni Mitchell, Céline Dion und Justin Bieber. Ja, auch Leonard Cohen gehörte dazu.
Ein weiterer Künstler dieser Kategorie ist Geddy Lee, der seinen Nachnamen Weinrib als Progressive Rock-Pionier nicht benutzt. Jahrzehnte lang war er der Sänger und Bassist des Trios Rush.
Auschwitz und Dachau
Der Sohn polnischer Holocaust-Überlebender wurde 1952 in North York (Provinz Ontario) geboren. Sein bereits 1965 verstorbener Vater Moshe Meir Weinrib kam aus Ostrowiec Świętokrzyski, seine Mutter Malka Rubinstein, die sich in Kanada Mary nannte und 2021 mit 96 Jahren starb, erblickte in Warschau das Licht der Welt.
Die Eltern lernten sich im jüdischen Ghetto von Starachowice kennen, bevor sie als Teenager nach Auschwitz und Dachau deportiert wurden. Geddy Lee Weinrib sprach in einem Interview von »einer Art surrealen Pre-Teenie-Scheiße«, die seiner Mutter und seinem Vater widerfahren sei.
Nach der Befreiung vor 80 Jahren hatte Moshe Weinrib seine Malka aus den Augen verloren. Er fand sie schließlich in einem Camp für vermisste Personen in Bergen-Belsen. Dort heirateten sie, bevor sie nach Kanada emigrierten und einen Gemischtwarengeschäft eröffneten. Sohn Geddy war sieben Jahre später da – in einer Zeit, in der es die Musik-Genres, für die er heute bekannt ist, noch lange nicht gab.
Grundsolide Freundschaft
Weitere 72 Jahre später: Die US-amerikanische TV-Legende Dan Rather interviewt Geddy Lee. Es geht auch um die Frage, wie es die Mitglieder der Progressive-Rock-Band Rush schafften, 47 Jahre lang zusammenzubleiben, ohne sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen.
»Ich hatte das Glück, zwei Leute zu treffen, die in ihrem Innersten rücksichtsvoll waren«, sagt er. »Ich kann mich an keinen einzigen Ego-Trip meiner beiden Band-Partner erinnern. Wir hatten einfach gute Persönlichkeiten. Der Fluch des Kanadierseins ist es, nett zu sein.« Dieses Statement mag nicht wie das eines Rockers klingen, aber es erklärt das Phänomen Rush.
Von einer »grundsoliden Freundschaft«, die ihn und seine Band-Freunde Alex Lifeson und Neil Peart zusammengehalten habe, spricht Geddy Lee. »Wenn zwei gegen einen vorgehen, ist dies unfair. Also taten wir das nie. Und selbst wenn es in einem humoristischen Kontext passierte, fühlten wir uns hinterher ein bisschen schuldig.«
Lifeson und Peart
Eine Progressive-Rock-Band ohne Streit, ohne Drogen- oder Alkoholprobleme und ohne Skandale? Die Klischees trafen bei Rush einfach nicht zu. Geddy Lee und seine Mitstreiter konzentrierten sich auf ihre Kunst. Diesbezüglich hatten sie viel zu bieten.
Der Gitarrist Alex Lifeson ist ein überzeugender Rock-Gitarrist jugoslawisch-kanadischer Herkunft, der Rush 1968 mit einem anderen Bassisten gründete. Geddy Lee übernahm dessen Rolle wenig später. Lifeson ist in der Rock-Welt eine Koryphäe, auch da er es schafft, mit seinem Instrument Sounds zu kreieren, die niemand vor ihm gespielt hat.
Der 2020 verstorbene Neil Peart kann problemlos als einer der fähigsten Rock-Schlagzeuger bezeichnet werden, die sich je durch die Weltgeschichte trommelten. Mit seiner Fähigkeit, auch komplizierte Rhythmen und erstaunliche Off-Beats zu liefern, hätte er wohl einen guten Jazz- oder Funk-Drummer abgegeben. Dies waren jedoch nicht seine Genres.
Sein Schlagzeug war stets mit unzähligen Tom Toms und Becken sowie mit einer Doppel-Basstrommel und anderen Extras ausgestattet, die dessen Transport zu einer Herausforderung machten. Als Flötist hätte er weniger schleppen müssen.
Klang und Aura
Geddy Lee, der jüdische Rush-Bassist, der zugleich Frontman der Formation war, dominierte den Sound mit seinem Tenor. Dieser passte ins Konzept und faszinierte eine treue Fangemeinde, die trotz des Endes der Band vor zehn Jahren bis heute weiterbesteht.
Wie konnte eine Prog-Rock-Gruppe mit nur drei Mitgliedern teilweise komplizierte Klänge und ausgefeilte Arrangements dieser Art liefern? Wer die Antwort darauf hat, ist schlauer als ich. Eine große Portion Know-how war jedenfalls dabei.
Das erste Album »Rush« von 1974 hätte sich zum Teil wie ein Garagenprojekt unter dem Motto »Hört her! Ich kann mehr als drei Akkorde spielen!« angehört – wäre da nicht die Tenor-Stimme von niemand geringerem als Geddy Lee gewesen. Diese gab dem Ganzen einen originellen Klang und eine spezielle Aura. Das damalige Teenager-Trio leistete ganze Arbeit.
Instrumentale Fähigkeiten
»Caress of Steel«, die zweite Schallplatte von 1975, war schon etwas ausgefeilter. Hier wuchs eine Band heran, die wie Genesis, Yes, Emerson, Lake & Palmer, Gentle Giant und ein paar anderen Formationen entscheidend zur Entwicklung des Prog-Rock-Genres beitrug. Dennoch war das Plattenlabel nicht zufrieden und hätte beinahe den Hahn zugedreht.
Dann, im selben Jahr, kam »Fly by Night«. Plötzlich war Rush erwachsen. Die Abwesenheit von Rum und anderen Drogen könnte mit dazu beigetragen haben, dass sich der Sound zusehends verfeinerte. Schon der Title Track kann selbst Nicht-Rocker, darunter den Autor dieser Zeilen, überzeugen. »2112«, die vierte Scheibe, sorgte endgültig für den Durchbruch.
Ja, in den guten, alten Zeiten haben wohl viele von uns mal »All the World’s a Stage« gehört sowie alle Alben bis »Moving Pictures« und »Exit ... Stage Left«. Während Geddy Lees Stimme das zentrale Markenzeichen von Rush ist, lohnt es sich auf jeden Fall, neben »Tom Sawyer« und vielen anderen späteren Rush-Songs das Instrumentalstück »YYZ« abzuspielen. Es ist ein Beleg für die instrumentalen Fähigkeiten der drei Jungs – nicht zuletzt von Neil Peart.
Besessener Sammler
Geddy Lee, der seit 1976 verheiratet ist und seither Vater zweier Kinder wurde, nahm zur Jahrtausendwende sein Solo-Album »My Favorite Headache« auf. Wer hier Rush-Sound erwartet, liegt nur partiell richtig. Zum Teil schräge, disharmonische Indie Rock-Klänge, die schwer verdaulich sind – zumindest wenn man genrefremd gepolt ist – wurden hier verewigt.
Den Bassisten und Bariton Geddy Lee auf Rush, sein Solo-Projekt oder Jobs als Produzent zu reduzieren, wäre allerdings falsch. Er trat zumindest einmal als Schauspieler in Erscheinung – und zwar in der kanadischen Serie »Murdoch Mysteries«. Und er ist ein »besessener Sammler«, wie er selbst zugibt.
Was könnte nordamerikanischer sein, als eine enorme Baseball-Bälle-Sammlung? In Geddy Lees Zuhause geht ein ganzes Zimmer dafür drauf. Von seinen Uhren, seinen 5000 (vollen) Weinflaschen und unzähligen Bassgitarren fangen wir hier gar nicht erst an.
Schreckliche Dinge
Weinrib, der sich als »jüdischen Atheisten« bezeichnet, beschäftigt sich allerdings auch mit ernsteren Themen, inklusive der Geschichte seiner Eltern: In eine »verrückte Familie« sei er hineingeboren worden, sagte er einst in einem Radiointerview. »Denn da war so viel Schmerz, vor dem sie geflohen sind.«
Seine Mutter habe die Gabe gehabt, Schuld als Teil der Erziehung einzusetzen. Über ihre Erfahrungen im Krieg, über »die Lager« und »all die schrecklichen Dinge, die sie durchstehen musste«, habe sie gesprochen. »Sie hat überlebt, ihre Schwester und ihre Mutter schafften es ebenfalls.« Auf der anderen Seite der Familie kamen viele Mitglieder um. »Von den sechs Geschwistern meines Vaters überlebten nur drei. Ich habe drei meiner Großeltern verloren. Das heißt, ich habe sie nie kennengelernt.«
»Als ich anfing, Musik zu machen, war meine Mutter verwundert und verwirrt, denn ihr zufolge war es nicht wirklich Musik«, so Geddy Lee Weinrib. Millionen Fans in allen Teilen der Welt sehen dies anders.
»Imanuels Interpreten« ist eine Kolumne über jüdische Musiker. marcus@juedische-allgemeine.de