»Gestern war ich sehr deprimiert. Heute bin ich erleichtert, dass wir uns getroffen haben«: So fasste Julie Grimmeisen, bis Ende 2023 akademische Leiterin im Generalkonsulat des Staates Israel in Süddeutschland, ihre wechselnden Gefühlslagen während der Tagung »Der 7. Oktober« zusammen. Mit dieser Erfahrung war sie nicht allein. Doron Kiesel, Leiter der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden, hatte ein herausforderndes Programm zusammengestellt: von morgens bis spätabends Frontalvorträge unter anderem über die Hamas, sexualisierte Gewalt der Terroristen gegen Frauen, Traumata in Israel und Entsolidarisierung in Deutschland.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb gab es mehr als 400 Interessenten für die Konferenz. Doch nur 300 (diesmal auch viele nichtjüdische) Teilnehmer fanden in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt Platz. Manche von ihnen vermissten moderierte Räume, um sich untereinander austauschen zu können, was diesmal aus Platzgründen nicht möglich war.
Dennoch fühlten sich viele nach drei schweren Tagen inhaltlich gestärkt und auch emotional aufgerichtet, soweit das viereinhalb Monate nach dem größten Massaker an Juden seit der Schoa möglich ist. Zu Beginn der Tagung sagte Kiesel, sie solle die Fassungslosigkeit bündeln. Zum Schluss kündigte er an, sie sei ein Auftakt gewesen. Denn auch bevor das neue Gebäude der Jüdischen Akademie in Frankfurt eingeweiht werden kann, ist der Bedarf am Austausch über das Thema immens. Zu hoffen ist auch auf ein Buch mit den Vorträgen, die wichtige Argumentationshilfen an die Hand geben.
Der Bedarf am Austausch über das Thema immens
Die Journalistin und Publizistin Esther Schapira machte am Mittwoch vergangener Woche den Aufschlag. Sie sprach über die »zutiefst verstörende und kränkende Erfahrung der Einsamkeit und des Verrats, die Enttäuschung politischer Hoffnung und die Lehren daraus«. Eine nüchterne, distanzierte Analyse des 7. Oktober 2023 könne sie nicht bieten, dafür sei ihre Erschütterung zu tief: »Ich werde also von mir sprechen müssen, von meinem Schmerz und meinen Gefühlen, die aber gleichwohl keine Privatsache sind.«
Die Publizistin und Kommunikationswissenschaftlerin Gisela Dachs, die als Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt, knüpfte daran an. Wer nach dem 7. Oktober nicht in Israel gewesen sei, könne das Land nicht verstehen, sagte sie. Die Israelis seien »wie in einer Zeitschleife gefangen«. Sämtliche Grundfeste seien an diesem Tag erschüttert worden.
Den ersten Abend der Konferenz beschloss Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am Kingʼs College in London. »Ist Frieden mit der Hamas vorstellbar?«, fragte er und gab selbst die Antwort: »Nur schwer.« Wer glaube, dass muslimisches Land von Muslimen kontrolliert werden müsse, könne kaum Kompromisse schließen. Die Hamas habe Israel nie anerkannt, jeder Waffenstillstand sei aus ihrer Sicht nur strategisch, zudem habe ihr wichtigster Unterstützer, der Iran, kein Interesse an Frieden.
Doch auch ein (rein) militärischer Sieg sei »nur schwer« möglich. Laut Geheimdiensterkenntnissen seien nur zehn bis 15 Prozent der Hamas-Tunnel zerstört, der militärische Erfolg Israels halte sich bislang in Grenzen. Neumanns Fazit: »Die Hamas ist ein zerstörerisches System, was gleichzeitig sehr schwer zu zerstören ist.« Vor dem 7. Oktober sei der Islamismus in der arabischen Welt in der Defensive gewesen. Die Gefahr sei, dass er nun wieder Oberwasser bekäme.
Ein (rein) militärischer Sieg sei »nur schwer« möglich
Am Donnerstagmorgen wurde ein Videobeitrag der Juraprofessorin Ruth Halperin-Kaddari von der Bar-Ilan-Universität in Israel über sexualisierte Gewalt der Hamas gezeigt. Sie kritisierte Doppelstandards bei internationalen Organisationen wie »UN Women«: Anders als ukrainischen Frauen werde Israelinnen nicht geglaubt.
Hintergrund sei auch, dass es nach dem Massaker nicht leicht sei, im juristischen Sinn Beweise zu liefern. Die Terroristen hätten die meisten Vergewaltigungsopfer ermordet und Überlebende nach Gaza verschleppt. Doch durch Zeugenberichte, Aussagen freigelassener Geiseln sowie israelischer Therapeuten zeige sich das planvolle Vorgehen der Hamas. Eine Zeugin habe drei Wochen nach dem 7. Oktober bei der israelischen Polizei ausgesagt.
Sie überlebte versteckt in Büschen und sah mindestens fünf Vergewaltigungen, darunter zwei Massenvergewaltigungen, so Halperin. In der Aussage der Frau gehe es auch um grausame Verstümmelungen. Mindestens sechs andere Augenzeuginnen hätten dasselbe Muster beschrieben, das an verschiedenen Orten – in Kibbuzim nahe Gaza und beim Nova-Festival – zur Anwendung kam. Getötet und verstümmelt wurden nicht nur Frauen, sondern auch Männer.
Eine jüdische Studentin aus München bekannte, sie traue sich kaum noch an die Kunsthochschule.
Sie selbst habe Fotografien von nackten Frauen mit zerrissener Kleidung und gespreizten Beinen gesehen, die aus den Genitalien bluteten und zahlreiche Schüsse in den Genitalbereich aufwiesen: »Ein übliches Muster von konfliktbezogener sexueller Gewalt als Kriegstaktik«, wie etwa im Bosnienkrieg. Allerdings gebe es keine forensischen Beweise, weil die Leichen so schnell wie möglich identifiziert wurden, um die Angehörigen zu benachrichtigen.
Die Historikerin Susanne Urban, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Hessen an der Philipps-Universität Marburg, sprach über eine antisemitische »Welle mit Ankündigung« nach dem 7. Oktober in Deutschland. »In Israel, den USA, Frankreich, Deutschland, allerorten gab es seit 2000 Warnungen, Analysen, Prognosen, dass und wie sich Antisemitismus entwickeln würde.«
Bei jeder antisemitischen Welle, die infolge des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis ausbrach, wie 2014 und 2021, sei »beschwichtigt und abgewiegelt und/oder relativiert« worden. Während der documenta 15 habe sich dann gezeigt, wie tief Antisemitismus bereits in Kunst, Kultur und Narrative eingedrungen war: »BDS war im Raum.«
Bei jeder antisemitischen Welle wurde »beschwichtigt und abgewiegelt und/oder relativiert«
Die Berliner Autorin und Dramaturgin Stella Leder, Gründerin des Instituts für Neue Soziale Plastik in Potsdam, unterstrich, nach dem Massaker sei es zu »brachialen antisemitischen Vorgängen« im Kulturbetrieb gekommen: »Kuratorinnen und Künstlerinnen beteiligten sich an Boykottkampagnen oder an lautstarken Störungen von Veranstaltungen. Es gab Glorifizierungen des Terrors durch Künstlerinnen auf Social Media, es gab Übergriffe, Anschläge und Androhungen von Gewalt bis hin zu Morddrohungen.«
Derweil seien Fälle von Resignation und des Rückzugs betroffener jüdischer und israelischer Künstlerinnen bekannt. Auch Institutionen und Kulturverwaltungen bräuchten Unterstützung, um mit Konflikten, Boykott und Antisemitismus umzugehen. »Leider kann ich insgesamt keine kulturpolitischen Maßnahmen erkennen, die in diese Richtung gehen«, so Leders Fazit. Als Sachverständige habe sie vergangene Woche im Kulturausschuss des Bundestages gehört, was Kulturstaatsministerin Claudia Roth in dieser Hinsicht vorhabe: »Nichts.«
Wie problematisch die aktuelle Situation für jüdische Studierende ist, wurde bei der Tagung erschreckend deutlich – auch bei der Wortmeldung einer Kunststudentin aus München. Sie beklagte, an der dortigen Kunstakademie von den Kommilitonen (etwa in den Fluren) gezielt auf den Gaza-Krieg angesprochen zu werden, wenn sie allein sei. Von den Präsidenten der Hochschule erfahre sie Rückhalt, aber nicht von anderen Studenten. Solle sie weiter an die Uni gehen oder sich zurückziehen?
Der einzige tendenziell optimistische Referent war Ahmad Mansour
Der einzige tendenziell optimistische Referent war Ahmad Mansour. Der Psychologe und Autor verlieh am Donnerstagabend seiner Hoffnung Ausdruck, die Koalition von Benjamin Netanjahu mit den »Spinnern« Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir werde bald am Ende sein. Am nächsten Morgen widersprach ihm Richard Chaim Schneider. Er sehe Netanjahu noch nicht gestürzt. Zudem sei nicht klar, »wie ein israelischer Premier, selbst wenn er wollte, die Siedlungen auflösen kann, ohne dass es ein innerjüdisches Blutbad geben wird«. In einem Punkt war sich der Autor und Filmemacher allerdings sicher: »Israel wird nur überleben, wenn es eine Demokratie bleibt.«
Einen Funken Hoffnung und eine Erwartung äußerte Esther Schapira in ihrem Vortrag. Sie sagte: »Der 7. Oktober hat uns traumatisiert, aber nicht besiegt. Militärisch wird Israel auch diesen Krieg gewinnen, weil es ihn wie alle Kriege zuvor gewinnen muss. Aber wie wird es moralisch überleben? Ich lese die Meldungen über israelische Soldaten, die palästinensische Häuser geplündert haben sollen. Ich verstehe ihr Bedürfnis nach Rache und bin zugleich froh, dass die Armee bereits eine Untersuchung eingeleitet hat. Wir dürfen nicht wie sie werden. Wir dürfen uns nicht der Wut überlassen, müssen der eigenen Verrohung entgehen. Wir dürfen die Augen nicht vor den Bildern der Kinder in Gaza verschließen. ›Sei ein Mensch‹ kennt kein ›aber‹, nur das ›und‹. Ohne die Fähigkeit zur Empathie verlieren wir uns selbst.«