Gaga-Tanz», was für ein verheißungsvoller Name. Er klingt schrill, exzentrisch, klingt nach Seltsamkeit, Irrsinn. So wie der «Bastard»-Tanz, den der belgische Regisseur Alain Platel aus Studien von Hysteriekranken entwickelt hat. Zeitgenössische Choreografen finden solche Konzepte, wenn sie die verborgenen Energiereservoirs des Körpers anzapfen wollen.
«Gaga» ist die Idee, die der Israeli Ohad Naharin, seit 1990 Leiter der legendären Batsheva Dance Company in Tel Aviv, in die Tanzwelt eingeführt hat, die er weltweit in Gastspielen und Workshops realisiert – nun erstmals auch am Staatsballett Berlin.
Es gehe in seiner Tanzsprache darum, «sich mit dem Tier, das wir sind, zu verbinden», die Bewegungen aus dem eigenen Körperempfinden heraus zu erspüren, sagt Naharin. Folgerichtig lässt er für seine Erarbeitungen stets die Spiegel im Probensaal verdecken. Der Tanz ahmt bei Naharin keine äußere Form oder Melodie nach, sondern entspringt aus dem inneren Energiestrom. Gemessen an diesen Vorgaben nahm sich das Staatsballettdebüt von Naharin vergangene Woche Donnerstag verblüffend wenig exaltiert, wenig animalisch aus. Kraftvoll und pulsierend war es dennoch.
Kastraten In Berlin ließ Naharin seine 2005 in Tel Aviv uraufgeführte Choreografie Secus neu einstudieren. Sie läuft als Mittelstück des dreiteiligen Abends Duato | Kylián | Naharin, dessen Auftakt der neue Intendant des Staatsballetts, Nacho Duato, selbst übernahm. Mit Castrati rückt Duato die titelgebende Figur des barocken Kastraten in den Fokus und damit die Frage, inwieweit das Opfer und die Selbstaufgabe zur Kunst gehören. Eine Frage, die im Höchstdisziplin-Fach Ballett allemal auf der Hand liegt. Die Akteure müssen sich an diesem Abend im Staatsballett quälen, um die Leichtigkeit der Sprünge, die schwebenden Pirouetten und Hebefiguren zu meistern.
In gnadenlosem Tempo wirbelt ein achtköpfiger Pulk Tänzer in schwarzen Kleidern rasend heran. Es ist ein Reigen wie aus einem Gothic-Tempel geboren. Barockmusik von Vivaldi trägt die Gruppe. Bald greifen sie nach dem nackten Menschen an ihrer Peripherie, nach der einsamen Kreatur, nach dem, der sich preisgeben muss. Wie ein Wurm krümmt sich der Solist, windet sich in Leidensposen, wird hinfortgetragen, ein Märtyrer der Kunst, um seine Natur beraubt, im Opfer erhöht. Ein düsterer, kraftvoller Auftakt dieses Abends.
Duatos Mentor Jiri Kylián wird im dritten Teil des Stücks mit Petite Mort zu Mozart-Klaviermusik das nachliefern, was der Kastrat in seinem Opfer eingebüßt hat: Erotik und Sinnlichkeit. Der Titel Kleiner Tod als Euphemismus des Orgasmus sagt bereits alles. In weichen, lyrischen Formen ergeht sich die Etüde. Männer, die mit Floretten fuchteln, treffen auf Frauen, die sich anschmiegsam unter ihren Händen winden. Eine süßliche, geradezu überzuckerte Fantasie.
Hipster-Klamotten Dabei hatte der Abend mit dem Mittelteil von Ohad Naharin längst die Fenster weit aufgerissen, längst einen ganz anderen, humorvollen, freien Ton angeschlagen. Städtisches Leben weht mit Secus herein, 16 Tänzerinnen und Tänzer in diskret farbiger Hipster-Klamotten, als seien sie gerade vom Prenzlauer Berg herübergeradelt.
Eckige Showtime-Musik knarzt aus den Lautsprechern, als habe die Jukebox einen Sprung. Abgerissen sind auch die Bewegungen, die folgen werden. Oder besser doch punktiert, fragmentiert. Mit kurzen wie beiläufig wirkenden Gesten und Schrittfolgen entäußern sich die Tänzer, ein hingehauchtes Gaga, um dann sogleich kurz zu verschwinden und wiederzukehren. Ihre Wege kreuzen sich, es entsteht das Bild einer Stadtansicht in Stop-Motion.
Naharin collagiert und mixt. Mit kühner Willkür fährt er das Licht hoch und runter. Die Musik ist elektronisch verfremdet, burleske spielshowartige Jinglesongs sind mit Bollywood-Filmmusik gemixt und garniert mit einem Schuss Beach Boys zum Finale. Aus kleinsten, präzise durchgearbeiteten Kristallen setzt Naharin sein urbanes Panorama zusammen.
Wimmelbild Zum Höhepunkt des 30-minütigen Bewegungsereignisses reihen sich die Tänzerinnen und Tänzer in drei Riegen auf, kommen dann einzeln wie auf einem Laufsteg vor und stürzen gekonnt auf den Boden, sodass ein schreiend komisches Wimmelbild entsteht. Szenenapplaus – das kommt nicht oft vor im großen Saal der Deutschen Oper, wo das Ballett die Premiere tanzt.
Was es mit dem Titels Secus auf sich hat, lässt das Programm offen. Dem Lateinwörterbuch nach übersetzt er sich mit: anders, auf andere Weise. Tatsächlich sieht man in Naharins Stück das Staatsballett abseits der klassischen Formensprache aus dem französischen und russischen Kanon, in einem frischen, fast spielerischen Zugriff, auf den man in Berlin ansonsten eher an Gastspielbühnen wie dem Haus der Berliner Festspiele stößt.
Das Andersartige ist eben oft auch einfach das Vertraute am ungewohnten Ort. Der Transfer von Secus ans Staatsballett verlief allemal fulminant. Ein Ereignis nah am Herzen der Berliner Clubkultur. Nicht durch und durch Gaga, aber gut.
www.staatsballett-berlin.de