Herr Mendelsohn, Sie begeben sich in Ihrem kürzlich erschienenen Buch Die Verlorenen auf die Suche nach sechs von sechs Millionen, wie es im Untertitel heißt. Bei diesen sechs handelt es sich um Mitglieder Ihrer Familie, die während der Schoa ermordet wurden. War es schwierig, so etwas Persönliches zu veröffentlichen?
Nicht in den USA. Das Buch hatte sich dort außerordentlich gut verkauft. Auch in Frankreich und Holland war es unproblematisch. Erstaunlicherweise ist der Markt für amerikanische Bücher in einigen Teilen Europas sehr groß.
Auch in Deutschland?
Die Zurückhaltung hier war beinahe schon absurd. Ich habe mein Manuskript teilweise mehrmals an die Verlage gesendet – zunächst erfolglos. Aber ein Freund hat mich ermuntert weiterzusuchen. 2008 war ich dann Gast der American Academy in Berlin. Auch mit dem Gedanken im Hinterkopf, einen Verleger zu finden. Witzigerweise haben mich die Leute dort tatsächlich gefragt, warum es mit der Veröffentlichung so schwierig ist.
Und was haben Sie ihnen geantwortet?
Eigentlich war es immer leicht, Holocaust-Bücher in Deutschland zu publizieren. Ich habe zwei Theorien, warum es sich bei mir so schwierig gestaltete: Zum einen ist dieser Markt inzwischen übersättigt. Vielleicht sind die Menschen auch müde, immer wieder über diesen Teil der Geschichte zu lesen. Zum anderen haben sich »Die Verlorenen« extrem gut in Ländern verkauft, die im Zweiten Weltkrieg besetzt waren. Außerdem gibt es keine deutschen Charaktere in dem Buch. Sonderbar, nicht wahr? Ein Buch über den Holocaust ohne Deutsche. Ich bin daher sehr gespannt, wie das Buch hier aufgenommen wird.
Wie war es denn in den USA?
Lesungen in den Vereinigten Staaten sind anders als in Deutschland. Normalerweise gehen wir zu Barnes & Noble, lesen 15 Minuten, dann stellen die Leute Fragen und fahren nach Hause. Nach meinen Lesungen hatte aber keiner eine Frage. Die Menschen sind aufgestanden und haben ihre eigenen Erlebnisse erzählt.
Sie haben die Geschichte Ihrer Familie in einer besonderen Art und Weise aufgeschrieben. Ihre Recherchen und Auszüge aus Briefen setzen Sie parallel zu Geschichten aus der Tora. Warum?
Ich habe es anfänglich nicht geplant, die Schöpfungsgeschichte mit in mein Buch aufzunehmen. Erst, als ich schon den Teil über die erste Reise nach Bolechow geschrieben hatte, kam mir die Idee: weg von den spezifischen Erlebnissen hin zu einer größeren Geschichte – die von Kain und Abel. Denn in diesem Teil geht es unter anderem um die Briefe meines Großvaters an seinen Bruder und um meine Beziehung zu meinem Bruder. Ich dachte, wenn mir diese Geschichten helfen, könnte das auch bei anderen so sein.
Durch eine religiöse Lesart?
Nein. Ganz und gar nicht. Ich bin klassischer Philologe und gewohnt, alte Texte zu lesen. Außerdem bin ich auch nicht religiös erzogen worden, obwohl mein Großvater aus einer frommen Familie kam. Mein Vater allerdings war Wissenschaftler. Für Religion war er zu ungeduldig. Und ich habe den Barmizwa-Unterricht nur meinem Großvater zuliebe besucht.
Gleich zu Beginn des Buches schreiben Sie über ein Erlebnis, das Sie nachhaltig geprägt hat: Als Kind fingen ältere Verwandte an zu weinen, wenn sie Sie sahen.
Ja, alle sahen in mir meinen Großonkel Shmiel. Ich war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber die Reaktionen der Verwandten haben auch den Samen für mein späteres Interesse an dem Thema gelegt. Dieses erste Kapitel in meinem Buch wirft die Frage auf, wie nah man der Vergangenheit kommen kann.
Wie nah haben Sie es denn geschafft?
Durch Recherchen, Reisen und Gespräche habe ich versucht, mich der Geschichte meiner Familie zu nähern, aber ich konnte sie nicht nochmal leben. Ich habe versucht, die Trauer, die meine Verwandten für Shmiel empfanden, ein Stück weit nachzuvollziehen: Indem ich an meine eigenen Gefühle zurückdachte, als meine Großmutter gestorben ist. Man sucht immer vergleichbare Emotionen.
Wie hat Ihre Familie darauf reagiert, als Sie sich auf diese Suche begeben haben?
Meine Mutter und ihre Cousins hatten großes Interesse daran, was ich herausfinden würde. Auch meine Geschwister waren begeistert und haben mich auf meiner ersten Reise begleitet. Niemand von uns hätte gedacht, dass sie uns einmal rund um den Erdball führen und fünf Jahre dauern sollte.
Ihre Mutter wirkt in dem Buch manchmal so, als sei es ihr doch nicht ganz so recht gewesen, dass Sie so ausgedehnt recherchieren.
Es mag vielleicht daher kommen, dass sie in ihrer eigenen Familie gesehen hat, welche Effekte die Auseinandersetzung mit der Geschichte hat. Verwandte, die das taten, sind teilweise daran zerbrochen. Allerdings waren sie auch keine Schriftsteller. Ich verwandele meine Obsession, mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, in Bücher. Das ist wohl der gesündere Weg, damit umzugehen.
Im Nachwort schreiben Sie, dass Sie alle Gespräche in diesen fünf Jahren nicht nur mitgeschnitten, sondern auch als Video aufgenommen haben. Warum?
Ich wollte nicht nur die Stimme meiner Interviewpartner hören, sondern auch ihre Gesten, ihre Blicke und die Umgebung bewahren. Schließlich geht es in diesem Buch auch darum, Fragmente einer verlorenen Gesellschaft zu konservieren. Und die Art wie Menschen reden, wie sie gestikulieren oder wie ihr Gesichtsausdruck ist, gehört dazu. Das sind Beweise. Ich stelle die Videos ja nicht auf YouTube.
Aber selbst da gibt es Projekte, die sich mit der Erinnerungserhaltung auseinandersetzen. Sind Videos für nachkommende Generationen eine Möglichkeit, über die Schoa etwas zu erfahren?
Einerseits: Wahrscheinlich ja. Ich glaube, dass es immer interessanter ist, ein wirkliches Gespräch zu führen oder zu verfolgen als eine langweilige Dokumentation zu sehen. Das will ich auch mit meinem Buch ausdrücken: Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte. Andererseits – und das sage ich jetzt als Altphilologe: Man kann nicht gegen die Zeit ankämpfen. Alle Ereignisse werden irgendwann verblassen. Die Frage, wie der Holocaust im Jahr 2010 vermittelt wird, stellt sich also weniger als die, wie darüber im Jahr 4010 berichtet werden wird.
Wie stellen Sie es sich denn vor?
Vielleicht wird es wie eine Haggada werden. Eine Geschichte, die wir einmal im Jahr erzählen. Aber die Menschen, die Familien – die werden verschwinden. Es ist doch so, als wenn wir über den Exodus reden. Wir kennen Joe, den Kamelreiter und dessen Familie nicht. Aber das ist in diesem Fall auch nicht wichtig.
Also kommt es nicht darauf an, wie detailliert darüber berichtet wird, sondern darauf, dass man überhaupt davon erzählt?
Auf den richtigen Moment kommt es an. Jetzt gibt es noch Holocaustüberlebende. In 15 Jahren sieht das schon ganz anders aus. Ich bin mit Schoaopfern groß geworden. Aber meine Kinder haben noch nie einen Überlebenden getroffen. Und für deren Kinder und Kindeskinder wird das vielleicht wie Science-Fiction sein. Man kann natürlich sagen, dass das furchtbar ist, aber es ist nun mal nicht vermeidbar. Werden sich meine Urenkel noch so für den Holocaust interessieren, wie ich es tue? Nein, aber das ist auch klar: Sie haben keinen Kontakt zur Vergangenheit.
Was also tun?
Man muss die nachfolgenden Generationen dazu ermuntern, sich für die Geschichte zu interessieren. Das Wissen um den Holocaust hat nicht einen einzigen Völkermord in der Geschichte verhindert. Und das ist vielleicht die Ironie des Ganzen. Deutschland hat, wie ich finde, die gesündeste Beziehung zu seiner Geschichte. Weil es sich von Anfang an damit auseinandergesetzt hat. Im Gegensatz zu Ländern, wie zum Beispiel die Ukraine, wo man nicht einmal über den Mord an Juden reden kann, weil sich das Land damit nicht beschäftigt hat.
Das Gespräch führte Katrin Richter.
Daniel Mendelsohn wurde 1960 auf Long Island, New York, geboren und studierte an der University of Virginia und der Princeton University klassische Philologie, worin er 1994 promoviert wurde. Mendelsohn arbeitete als Kritiker für The New York Review of Books, New York Magazine, The New Yorker und The New York Times. Sein neues Buch »Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen« ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen (Köln, 640 S., 24,95 €)