Antisemitismus

»Für Palästina gegen das eigene Unwohlsein«

Frau Stögner, viele Feministinnen leugnen die frauenfeindliche Realität der Hamas-Gewalt an israelischen und jüdischen Frauen am 7. Oktober 2023. Glauben sie tatsächlich, mit Antisemitismus den Feminismus zu verteidigen?
Die meisten glauben ja nicht, dass sie antisemitisch sind. Das ist das grundlegende Problem. Sie haben keinen Begriff vom aktuellen Antisemitismus, sondern anerkennen ihn höchstens als ein geschichtliches Problem in Verbindung mit dem Nationalsozialismus. Modernisierte Formen werden nicht erkannt, schon gar nicht solche, die sich über eine Umwegkommunikation als »Israelkritik« tarnen. Auch Judith Butler sagt, jede Form von Antisemitismus wie auch jede Form von Rassismus müsse bekämpft werden. Dass der Hass auf Israel sich in Angriffe auf Juden und Jüdinnen übersetzt, wird nicht verstanden. Doch würde ich trotzdem nicht sagen, dass all diejenigen, die in Campus-Proteste involviert sind und sich in vorgeblicher Palästina-Solidarität engagieren, bewusste Antisemiten sind.

Was sind sie dann?
Häufig sind sie unwissend. Es geht ihnen darum, bei etwas dabei zu sein, sich zu beteiligen. Sie meinen, auf der »richtigen Seite der Geschichte« zu stehen. Es geht dabei mehr um sie selbst als um die »Befreiung Palästinas«, eines Ortes, von dessen Geschichte und Komplexität sie ebenso wenig Ahnung haben, wie über die Herrschaftsverhältnisse in Gaza. Die Palästinenser werden zu Konstruktionen, Hülsen, die man vor allem mit dem eigenen Unwohlsein füllt. Es geht um eine antiwestliche Selbstbespiegelung im Westen.

Aber damit unterstützen sie ein islamistisches frauenfeindliches Terrorregime.
Viele Vertreterinnen eines intersektionalen, postkolonialen oder queeren Feminismus verstehen es als unterdrückend und als westlich-hegemoniale Geste, wenn man westliche Frauenrechte für Palästinenserinnen einfordert. Denn diese Frauenrechte entsprächen ja den Standards des Westens. Das ist ein Kulturrelativismus, laut dem man nur das vorgeblich Eigene kritisieren darf und sich zurückhalten müsse, wenn es um andere Kulturen, Religionen et cetera geht.

Aber dann dürften sie auch Israel nicht kritisieren.
Ihrer Meinung nach schon, denn Israel gilt ihnen als Vorposten des weißen westlichen Imperialismus in einer autochthonen arabischen Welt.

Das heißt, Juden kommen in dieser Weltsicht einfach nicht vor?
Juden und Jüdinnen werden schlichtweg nicht als eine diskriminierte und verfolgte Minderheit gesehen. Und das hat sehr viel mit Antisemitismus zu tun, mit einem Wahrnehmungsabwehr-Antisemitismus, ei­nem sekundären Antisemitismus. Wenn man die Opfergruppe wegleugnet, dann gibt es gegen sie auch keinen Antisemitismus und hat es auch nie gegeben. Das ist der einfachste Weg, mit der Aufarbeitung der Vergangenheit Schluss zu machen. »Die gibt es nicht, die waren nie da, und jetzt sollen sie auch nicht da sein. Und überhaupt sind die alle privilegiert.«

Warum, glauben Sie, vereinen ausgerechnet die Massaker vom 7. Oktober so viele unterschiedliche politische Lager – von der Feministin zum Islamisten, zum Neonazi, zum Klimaaktivisten …
Schon während der Pandemie war auffällig, dass die Proteste gegen die Maßnahmen Rechtsextreme bis Linke zusammengeführt haben. Viele Demonstranten haben sich nicht daran gestört, wenn Demonstrationen von Rechtsextremen angeführt wurden. Ich habe dieses Phänomen zurückgeführt auf eine allgemeine Fragmentierung der Gesellschaft und eine daraus folgende Isolation der Menschen. Sie nehmen das Gegenüber immer weniger wahr, sind immer stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Das scheint mir heute noch einmal verstärkt zu sein. Die Proteste nehmen einen surrealen Eventcharakter an und fungieren als Kompensation für soziale Einsamkeit. Im Hass auf Israel finden sie zusammen – er ist eine Schiefheilung für eine unbewusst empfundene soziale Isolation und einen Mangel an Solidarität.

Als Gründe haben wir bisher Selbstbespiegelung, Relativismus, Zugehörigkeitssehnsucht …
Da kommt einiges zusammen. Seit 9/11 gab es eine absurde Entwicklung hin zu einer antiwestlichen Orientierung innerhalb von feministischen und queeren Kreisen und hin zu einer Öffnung zum Islamismus. Manche glaubten irrigerweise, darin eine Alternative zur westlichen Moderne und zum Identitätszwang zu sehen, unter dem vor allem queere Menschen leiden.

Im Iran werden Homosexuelle an Kränen gehenkt …
Das wird alles ausgeblendet. Man beschäftigt sich ja kaum konkret mit dem Islamismus, sondern sieht ihn in erster Linie als Opposition zum Westen.

Man könnte fast meinen, der 11. September 2001 habe ein Stockholm-Syndrom mit Terroristen ausgelöst.
Es liegt nahe, hier von einer Sympathie und teilweise Identifikation mit dem Aggressor auszugehen. Ein Antifeminismus wird legitimiert, wenn er sich gegen den Westen richtet. Das scheint authentisch zu sein. Dahinter stehen wieder unbenannte Erfahrungen mit eigener Unzugehörigkeit und Isolation und ein Unbehagen mit allem, was mit der westlichen Aufklärung zu tun hat. Universalismus, Menschenrechte, Individualismus, Emanzipation, Gleichheit, Gleichberechtigung, all das wird im Grunde abgelehnt.

Aber das ist doch absurd. LGBTQ-Rechte sind deshalb überhaupt nur möglich. Die Aktivisten sägen am eigenen Ast.
Definitiv. Diese Rechte sind in unseren Gesellschaften nicht vom Baum gefallen, sondern wurden im Westen gegen massive Widerstände erkämpft. Trotzdem gilt der Westen vielen immer noch als der Hauptgegner. Es ist ein sehr unterkomplexes, in erster Linie repressives Bild des Westens, das jene Seiten des Westens ausblendet, die befreiend sind. Die Aktivistinnen sehen sich als Gegnerinnen des Westens, weniger als Teil davon. Es geht nicht um die Rechte der Palästinenser und Palästinenserinnen. Sondern darum, wie man den Westen und dessen Konzept ablehnt.

Das bedeutet eine brutale Schwächung und Auflösung der westlichen aufklärerischen Institutionen. Und der Jude ist mal wieder der Kanarienvogel in der Mine?
Wir wissen, dass man den Freiheitsgrad einer Gesellschaft daran messen kann, wie es den Juden, Frauen und Homosexuellen geht. Sobald in Gesellschaften Juden wieder angegriffen werden, ist es um unser aller Freiheit, unser aller Sicherheit nicht gut bestellt.

Glauben Sie, dass sexualisierte Gewalt gegen Jüdinnen zunehmen wird, auch mit Blick auf Frankreich?
Da will ich nichts antizipieren. Was wir nach dem 7. Oktober gesehen haben, ist, dass sexuelle Gewalt an Jüdinnen auch von namhaften Feministinnen ausgeblendet wird, was besonders verstörend ist. Ich kann mir das nicht anders als mit einer Täter-Opfer-Umkehr erklären, um die Projektionsfläche des sogenannten palästinensischen Widerstandskämpfers frei von jedem Widerspruch zu halten, um sich damit identifizieren zu können. Und ein Held kann natürlich nicht vergewaltigen, deshalb blendet man das aus. Außerdem müsste man, wenn man die sexuelle Gewalt gegen Jüdinnen anerkennt und verurteilt, gleichzeitig auch den antisemitischen Charakter dieser Tat anerkennen.

Ist damit zu rechnen, dass es in feministischen Kreisen demnächst zur Einsicht kommt? So verblendet kann man doch nicht lange leben.
Ich fürchte, das kann man leider doch. Man muss sich nur die deutsche Geschichte ansehen. So eine Verblendung kann ein Leben lang anhalten, sogar über Generationen weitergegeben werden. Ich glaube, dass die Wahrnehmungsabwehr, die wir hier sehen, unmittelbar verwandt ist mit der Wahrnehmungsabwehr gegenüber den Opfern des Holocaust. Das ist eine transgenerationelle Transmission von Wahrnehmungsabwehr. Diese Abwehr der Übernahme von Verantwortung ist auch in postkolonialen Zusammenhängen wirksam. Großbritannien, Frankreich, Spanien, Belgien, Niederlande, auch Deutschland, das sind alles ehemalige Kolonialstaaten. Und all das, was diese Länder an historischen Verbrechen und historischem Unrecht auf sich geladen haben, wird auf Israel projiziert. Israel sei jetzt der Täter, und wenn man gegen Israel vorgeht, könne man sich von historischer Schuld reinwaschen. Man hat sich längst nicht annähernd ausreichend mit all diesen historischen Gräueln auseinandergesetzt. Das ist eine Form von Schuldabwehr-Antisemitismus.

Der Sündenbock aus dem Mittelalter, vergiftete Brunnen …
Da sieht man, wie langlebig und zäh das ist. Adorno hat von der Gesellschaft als Schuld- und Verstrickungszusammenhang gesprochen, über Generationen hinweg, das erkennt man gerade am Antisemitismus.

Warum gerade jetzt, warum in diesem globalen Ausmaß?
Natürlich hängt es mit dem 7. Oktober zusammen. Der Skandal in den Augen vieler ist, dass sich Israel wehrt. Antisemiten wollen Juden wehrlos sehen, in der Position derer, die man ungestraft überfallen darf. Der jüdische Staat ist ein Affront, auch weil er sich gegen die arabische Übermacht immer wieder durchgesetzt hat. Hinter der israelischen Wehrhaftigkeit steht die Erfahrung von Juden und Jüdinnen, dass die Welt während des Holocaust zugeschaut und nichts getan hat. Die unbedingte Notwendigkeit des Staates Israel liegt auf der Hand. Antisemiten müssen den Holocaust leugnen, um die Legitimität Israels untergraben zu können.

Das ist doch Wahnsinn! Wie kann man dagegen angehen?
Man muss politisch ansetzen und den eigentlichen Aggressor in der Region ausfindig machen und ihn benennen. Das ist die Islamische Republik Iran, die Israel beständig mit Vernichtung droht und die Hamas, Hisbollah und die Huthi unterstützt. Das Mullah-Regime ist der derzeit schlimmste antisemitische Akteur global.

Und an den westlichen Universitäten?
Aufklärungsarbeit, vor allem über die eigene Situation in der Gesellschaft, die unzufrieden macht. Deshalb beruht der Antisemitismus an westlichen Universitäten heute vor allem auf Projektionen. Da ist unglaublich viel Arbeit zu tun.

Mit der Professorin für Soziologie an der Universität Passau sprach Sophie Albers Ben Chamo.

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