Auf den ersten Blick täuscht der Titel. In dem neuen Buch »Ein Mann sein« von Nicole Krauss geht es vor allem um Frauen, aber auch um die Frage: Was wäre, wenn? In zehn intensiven Kurzgeschichten verhandelt die 47-jährige Autorin, die meisterlich aus Gefühlen Menschen baut, Stationen im Leben einer Frau, die sich so oft im Verhalten von Männern spiegeln.
Frau Krauss, wenn ich Ihre Bücher lese und dann vielleicht noch Musik von Haim höre, fühle ich mich zu Hause. Haben Sie auch so eine Zuhause-Combo?
Das haben schon viele Autoren vor mir gesagt, aber die Sprache und das Werk sind mein Zuhause. Ich habe als Teenager angefangen, daran zu werkeln. Und wenn es gelingt, solch ein Haus zu bauen, denn für mich ist jedes Buch ein neues Haus, und wenn man dann jemanden, also den Leser, einlädt einzutreten, dann ist es die beste aller Welten, wenn er oder sie darin ein Zuhause findet. Das ist das Ziel meiner Arbeit.
Gab es ein Zuhause, bevor Sie sich selbst eines gebaut haben?
Das Land der Literatur, wohin wir fliehen können, wo wir mit unserem Selbstverständnis experimentieren, verschiedenes Sein ausprobieren und in uns aufnehmen, wo wir zu dem werden können, was wir uns nie vorstellen konnten. Ich bin früh süchtig danach geworden. Und es war eigentlich egal, was ich gelesen habe, es konnte die Biografie von Henry Miller sein anstatt einer seiner Romane. Da war kein Sinn und Verstand dahinter, ich wusste nur, das ist mein Zuhause.
»Ein Mann sein« ist vor zwei Jahren im Original erschienen. Fühlt es sich jetzt anders an, darüber zu sprechen?
Eineinhalb Jahre! (lacht) Aber es stimmt, jedes bisschen Zeit, das vergeht, entfernt es weiter von mir, und ich arbeite schon an etwas Neuem. Trotzdem habe ich eine enge Verbindung zu diesen Geschichten. Sie sind, wie alle meine Bücher, immer eine Reflexion von dem, wer ich gerade war, in den Jahren, als ich es geschrieben habe. Und immer, wenn ich fertig bin, muss es einen Bruch in meinem Leben geben, nicht nur im Schreiben. Etwas muss sich ändern, bevor ich weitermachen kann.
Und was war es diesmal?
So persönlich möchte ich nicht werden. (lacht) Ich kann es nicht planen oder künstlich herbeiführen, aber ich habe das Gefühl, dass mein Leben und Schreiben parallel verlaufen. Ich muss das neu Gelernte, die Veränderungen ordnen, und das landet dann wieder in meiner Arbeit. In dem Moment lebe ich ruhiger, und danach muss ich wilder leben, mehr ausprobieren. Ich weiß gar nicht, ob Leben oder Schreiben zuerst kommt, das ist wie mit dem Ei und der Henne. Schreibe ich, weil ich schon immer so abenteuerlustig und neugierig gelebt habe, oder lebe ich so, weil ich durch das Schreiben so zu leben gelernt habe? Keine Ahnung, das ist schon so lange so.
Also steht jedes Buch für eine bestimmte Phase, eine Fragestellung in Ihrem Leben?
Ja, alles, worüber ich schreibe, ist eine Betrachtung, ein Nachsinnen über eine bestimmte Zeit in meinem Leben. Und ab einem gewissen Zeitpunkt passt das Haus, das ich damit gebaut habe, nicht mehr, und ich muss ein neues bauen.
Erweitern Sie das Haus oder reißen Sie es komplett ab?
Ich reiße ab! Ich lese meine Bücher nicht noch einmal, ich weiß, was da ist. Und da gibt es diese Kontinuität eines Anliegens, von »Kommt ein Mann ins Zimmer«, als ich 25 war, bis heute: Erinnerung, und wie wirkt sie sich auf die Identität aus, auf das Selbst. Die Form hat sich dramatisch verändert, nicht der Inhalt. Das Thema ist geblieben, aber ich sehe es komplett anders.
Das meinten Sie, als Sie Ihr Schreiben einmal das »Nachverfolgen des Prozesses der Selbstwerdung« genannt haben?
Genau, meiner eigenen und der der anderen. Es kann ziemlich hart sein, Schriftstellerin zu sein, aber das Gute daran ist, dass wir Aufzeichnungen über die intimsten Details unseres Innenlebens haben, darüber, wer wir zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Leben waren. Wenn ich eines meiner Bücher öffne, fliegt mir mein eigenes Leben entgegen in einer Intensität, zu der ich heute, da ich hier sitze, keinen Zugang hätte.
Da Sie gerade vom Thema Erinnerung sprachen, habe ich eine hoffentlich nicht zu persönliche Frage: Sie sind eine Meisterin darin, Worte und Bilder für Verlust und Trauer zu finden. Warum immer wieder dieses Thema?
Wow, das ist eine Frage, die ich mir beim Therapeuten schon mein ganzes Leben lang stelle. (lacht) Da kommt einiges zusammen. Ich trage diese Gefühle seit meiner Kindheit in mir. In meiner Familie kommen die Großeltern aus vier verschiedenen Ländern Europas. Ich existiere, weil sie enormen Verlust erlitten haben. Sie mussten ihr Zuhause verlassen, meine Großmutter hat ihre gesamte Familie verloren, bis auf einen Bruder. Das Gefühl, nicht zurückkehren zu können, sowohl physisch als auch emotional, ist das seelische Fundament, auf dem ich aufgewachsen bin. Als ich 14 Jahre alt war, haben wir in der Schule Gabriel García Márquez’ »100 Jahre Einsamkeit« gelesen. Der Lehrer sagte, dass es darin um Nostalgie gehe, und alle haben ihn verständnislos angesehen. Dann hat er es erklärt, und ich dachte plötzlich: »Gute Güte, ein Wort für das, was ich schon immer fühle«. Der Begriff wurde ursprünglich in einem medizinischen Kontext verwendet, als Beschreibung für ein krankmachendes Heimweh, das man Schweizer Söldnern diagnostiziert hatte. Die Sehnsucht nach einem Ort, nach dem Zuhause. Unerklärlich, aber sinnig, dass ich so fühlte. Ich hatte meine eigenen Kindheitserfahrungen mit denen meiner Familie übereinandergelegt, was bei mir zu diesem tiefen Gefühl des Verlusts geführt hat. Und zu der Frage nach den Konsequenzen, wie wir damit leben können. Und mehr noch: Es ist die Geschichte der jüdischen Erinnerung. Mehr als 3000 Jahre lang mussten wir lernen, wie wir unsere Geschichte und all ihre Verluste im Gedächtnis behalten …
Wie wir unser Haus mitnehmen …
Genau! Das mussten wir verinnerlichen. Zum einen durch ständige Einübung, doch dabei mussten wir auch lernen, dass es uns nicht überlastet, dass es nicht unser Leben bestimmt. Das, und nicht zu vergessen, ist das Herz der jüdischen Existenz. Und das ist mein Thema.
Aber Sie mögen die Bezeichnung »jüdische Autorin« nicht so gern.
Solange ich selbst nicht darüber nachdenken muss, habe ich nichts dagegen. Aber als Autorin muss ich mir mein Recht auf Freiheit erhalten. Der Moment, in dem ein Autor etwas repräsentieren muss, ist der Tod des guten Schreibens. Aber wenn Sie mich fragen, wie ich es finde, in 3000 Jahre jüdische Geschichte hineingeboren zu sein: Was für ein Geschenk! Ich bin sehr glücklich und dankbar für diese Welt.
Wie fühlt es sich für Sie an, als jüdische Frau im Jahr 2022 durch die Straßen Berlins zu laufen?
Als ich in Berlin angekommen bin, habe ich meine Sachen ins Hotel gebracht und bin dann ein bisschen spazieren gegangen. Plötzlich kommt ein Fahrradfahrer auf mich zu und sagt: »Entschuldigen Sie, aber wissen Sie, wo das Jüdische Museum ist?« Das waren die ersten Worte, die hier an mich gerichtet wurden! Ich dachte, bin ich so auffällig? Später wollte ich essen gehen und habe die Kellnerin etwas gefragt. Sie gab mir die Karte und sagte »Bewakascha«. Ich schwöre, das ist, was ich verstanden habe. Ich dachte, okay, entweder ist es die Realität oder ich bin es. Beides ist interessant.
Was wären Sie eigentlich geworden, wenn nicht Autorin? Hatten Sie vielleicht einen Plan B?
Nein, keinen, was verblüffend ist. Heute denke ich, dass ich gern Tänzerin geworden wäre. Ich arbeite seit zwölf Jahren nach der Gaga-Technik mit Ohad Naharin. Ich hätte es geliebt, Tänzerin zu sein. Vielleicht auch, weil es der Gegensatz zu dem ist, was ich die ganze Zeit tue. Tanzen ist körperlich, ich arbeite mit dem Geist. Und da die berufliche Karriere als Tänzerin begrenzt ist, hätte ich danach ja noch Schriftstellerin werden können.
Mit der Schriftstellerin sprach Sophie Albers Ben Chamo.
Nicole Krauss: »Ein Mann sein. Storys«. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt, Hamburg 2022, 256 S., 24 €
Nicole Krauss, geboren 1974 in New York, studierte Literatur in Stanford und Oxford sowie Kunstgeschichte in London. 2002 debütierte sie mit »Kommt ein Mann ins Zimmer« als Romanautorin. 2005 gelang ihr mit »Die Geschichte der Liebe« der internationale Durchbruch. Das Buch wurde in 35 Sprachen übersetzt und verfilmt. Im Abstand von fünf und sieben Jahren erschienen »Das große Haus« und »Waldes Dunkel«. Krauss hat zwei Söhne mit dem Autor Jonathan Safran Foer und lebt in Brooklyn und Tel Aviv.