»Der Antisemit will keiner je gewesen sein und hat sein klares Profil verloren.« Gewiss, es ist eine akademische Debatte, ob Juden heute eher von einem alten oder neuen Antisemitismus bedroht werden. Aber das macht sie nicht unwichtiger. Denn erst mit klarem Blick lassen sich Dinge benennen, Ursachen bekämpfen. Und wo Antisemitismus herumspukt, sind andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht weit. Das macht das unverblümte Vorwort von Neuer Antisemitismus? deutlich, dem auch das Eingangszitat entstammt.
Vor knapp 15 Jahren veröffentlichten die Herausgeber Doron Rabinovici und Natan Sznaider einen Sammelband unter dem selben Titel. Darin ging es um die Frage, ob Antisemitismus überhaupt noch virulent ist und ob es neue Formen gibt. Für 2019 fällt die Antwort eindeutig bejahend aus. Der nun neu aufgelegte, überarbeitete und ergänzte Sammelband agiert darum unter anderen Vorzeichen. Statt der Frage des Ob steht jene des Wie und Warum im Vordergrund. Entwarnung gibt keiner der hier versammelten Texte.
BDS Nur jener von Judith Butler sticht heraus: Er ist vor allem eine Verteidigung der israelfeindlichen BDS-Bewegung, die Israel mit Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen schaden will, um die Palästinenser zu unterstützten. Von ihrer antikolonialen Romantik und ihrem blinden Flecken abgesehen, die sie Unterdrückung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft selbst nicht wahrnehmen lässt, hat Butler immerhin Recht mit ihrer Warnung, den Antisemitismusvorwurf nicht inflationär zu benutzen.
Denn auch das ist relativ neu in der Debatte: Ist sogenannte Israelkritik nur ein Feigenblatt für Antisemitismus? Oder ist ein solcher Vorwurf nur eine Immunisierung gegen jede Kritik am israelischen Staat? Hier ist Vorsicht geraten, insbesondere in Zeiten, wo es plötzlich Juden in der AfD gibt oder Israelverteidiger wie den ehemaligen Trump-Strategen Steve Bannon.
Neben neuen Texten gibt es zu jedem älteren ein ausführliches Postscriptum.
Butlers Beitrag ist ein langer Kommentar zu ihrem in der Erstauflage veröffentlichten Text. Und in dieser Hinsicht ist das Buch ein Gewinn: Neben neuen Beiträgen gibt es zu jedem von der ersten Auflage übernommenen Text ein ausführliches Postscriptum. Das erleichtert die Einordnung, macht die Debatte nachvollziehbarer. Die Einzelbeiträge schälen analytisch verschiedene Wurzeln des Antisemitismus heraus, der praktisch oft als Konglomerat daherkommt: christlicher Antijudaismus, rassistisch-biologistische Weltanschauung, nicht allein vom Israel-Palästina-Konflikt, sondern auch von arabischer Hitlerverehrung bewegter muslimischer Antisemitismus, linker Antiimperialismus und der strukturelle Antisemitismus verkürzter Kapitalismuskritik.
MITTE Ein bisschen blass für die deutsche Debatte bleibt eine Differenzierung linker Positionen, obwohl das Thema »Israelkritik« hier oft die Spaltfrage bildet. Neben Erörterungen zur Neuen Rechten, zur Labour-Partei und zu Ressentiments unter Flüchtlingen kommt der Alltagsantisemitismus der Mitte in der Analyse zu kurz. Da wäre mehr zu erfahren gewesen.
Das schmälert die insgesamt präsentierten Einsichten aber nicht, die im Kern alle zu der Haltung aufrufen, zu benennen, was zu benennen ist. Um es mit den Worten von Omer Bartov zu sagen: »Wenn du einen Nazi siehst, einen Faschisten oder Antisemiten, dann muss du sagen, was du siehst. … Wo die Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft.«
Christian Heilbronn, Doron Rabinovici, Natan Sznaider (Hg.): »Neuer Antisemitismus? – Fortsetzung einer globalen Debatte«, Suhrkamp, Berlin 2019, 494 S., 20 €