Die Journalistin und Historikerin Anne Applebaum (60) ist äußerst gut vernetzt in den europäischen und amerikanischen Eliten. Verheiratet ist sie mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski.
Applebaum, geboren 1964 in Washington, hat als Korrespondentin für große Zeitungen weltweit gearbeitet. Mit ihrem Ansatz aus persönlichen Erfahrungen, historischem Weitblick und theoretischer Analyse erforscht sie nicht nur die kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands, sondern legt auch die Mechanismen offen, die in der Gegenwart zu einer Rückkehr autoritärer Tendenzen führen.
Am Sonntag hat die Wissenschaftlerin mit jüdischen Wurzeln in der Frankfurter Paulskirche den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten.
»Russische Konzentrationslager nicht hinnehmen«
Sie nutzte ihre Dankesrede für einen dramatischen Appell, alles zu tun, um die Zerstörung der Ukraine zu verhindern. Sie wandte sich gegen einen naiven Traum von einem »auf magische Weise eintretenden Frieden«. Pazifistische Forderungen bedeuteten letztlich, »dass wir die Eroberung der Ukraine, ihre kulturelle Zerstörung, die Errichtung von Konzentrationslagern und die Entführung von Kindern aus der Ukraine akzeptieren sollten«.
Deutschland habe eine besondere Verantwortung für die Verteidigung von Demokratie und Grundrechten. Und müsse dafür auch Risiken eingehen. »Der Rest der Welt braucht Sie!«, rief Applebaum.
Scherbakowa: Ukraine-Krieg hätte verhindert werden können
In ihrer Würdigungsrede auf die Preisträgerin sagte die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa, der russische Überfall auf die Ukraine hätte verhindert werden können, wenn Deutschland und der Westen die Ukraine schon früher militärisch gestärkt hätten. Schon jetzt habe der Krieg Europa verändert. Ein Sieg Putins würde aber eine weitere dramatische Schwächung der Demokratien und eine Stärkung von Diktaturen und Autokratien weltweit bedeuten.
Scherbakowa beschrieb Applebaum als scharfsinnige Anaylstin und Mahnerin: »Anne Applebaum verdanken wir eine schonungslose Darstellung des kommunistischen Regimes und seiner Verbrechen, die aber gleichzeitig voller Empathie für die Opfer ist.«
Warnung vor Diktatoren
Applebaum hat vielbeachtete Analysen veröffentlicht. So beschreibt sie in ihrem Buch »Die Verlockung des Autoritären« (2021), wie sich die politischen Diskurse in Europa und den USA nach rechts verschieben. Entscheidend sind aus ihrer Sicht Netzwerke von Journalisten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Politikern, die hinter Machtmenschen wie Putin, Erdogan und Orban die Strippen ziehen.
Auch in ihrem gerade erschienenen Buch »Die Achse der Autokraten« analysiert Applebaum die Netzwerke korrupter Herrscher, die die Demokratie zerstören wollen. »Im Gegensatz zu militärischen oder politischen Bündnissen aus anderen Zeiten und Orten agiert diese Gruppe nicht wie ein Block, sondern eher wie eine Ansammlung von Unternehmen«, heißt es mit Blick auf Russland, China, Iran, Nordkorea, Venezuela, Kuba, Syrien und weitere Staaten.
Demokratien neu ausrichten
Mit Korruption, Zusammenarbeit von Militärs und Sicherheitsdiensten sowie Propaganda hielten sich diese Diktatoren gegenseitig an der Macht. Einig seien sie sich nur in einem Punkt: »in ihrer Abneigung gegen uns, die Bewohner der demokratischen Welt«. Applebaum fordert die Demokratien auf, ihre Politik grundlegend neu auszurichten, um diese neue Art von Bedrohung zu bekämpfen. Es brauche eine internationale Koalition, die gemeinsam gegen Geldwäsche, »Fake News« und Unterwanderung vorgehe.
Weithin als Historikerin bekannt wurde Applebaum mit ihrem 2003 erschienenen Standardwerk »Der Gulag« über die sowjetischen Straflager. 2019 beschrieb sie in »Roter Hunger« Stalins Krieg gegen die Ukraine - den angeordneten Hungertod von mehr als drei Millionen Ukrainern 1932 und 1933.
Applebaum zieht klare politische Konsequenzen: Seit dem Überfall auf die Ukraine wirbt sie für Waffenlieferungen an die Verteidiger. »Der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur ist oft nichts anderes als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur«, sagte sie in der Paulskirche.