Lesen

Fremdheit und Nähe

Foto: Ingo Way

Ein Schuljunge in Ost-Berlin, Ende der 60er-Jahre, die verfallene Pracht eines staubigen S-Bahnhofes: Dringend braucht er etwas Kleingeld für den Fahrschein, fragt bei Passanten nach, die blicklos weiter hasten. Bis auf eine Frau, die abrupt stehen bleibt und ihn scharf ins Auge fasst: »Bist du Deutscher? ... Du siehst nicht so aus ... Ein Deutscher bettelt nicht.«

Eine frühe Fremdheitserfahrung, die der 1954 in Ost-Berlin als Hans Noll geborene Schriftsteller Chaim Noll hier präzise einfängt. Wie stets in seinen Büchern – denen man gar nicht genug Leser wünschen kann – ist die Atmosphäre bereits in wenigen Sätzen umrissen, in treffenden Adjektiven und mit untrüglichem Rhythmusgefühl. Wann hat man so etwas zum letzten Mal gelesen? Manche Literaturkritiker haben dem 1984 nach West-Berlin ausgereisten und seit 1998 zusammen mit seiner Frau, der Malerin Sabine Kahane, in Israel lebenden Romancier und Essayisten bescheinigt, er schreibe ein Deutsch, das an die besten Traditionen der Weimarer Republik erinnere, eine urbane Prosa mit psychologischem Feingefühl.

Tel Aviv Das war treffend beobachtet, denn auch Nolls jüngster Erzählband Schlaflos in Tel Aviv zeugt von einer geradezu verblüffenden Wahrnehmungsschnelligkeit, die gleichwohl in die Tiefe geht.

»Sie hat etwas gesehen, was er selbst nicht sieht«, heißt es in der oben erwähnten Eingangserzählung, die ihre leitmotivische Fortsetzung in einer efeuumrankten Villa findet, in der sich – die DDR quasi in einer Nussschale – vor allem depressive Patienten aufhalten. Freilich ist der Protagonist nur deshalb in diese Welt geraten, um dem Militärdienst zu entgehen. Eine alte Ungarin beobachtet ihn und will schließlich wissen: »Bist a Jud?« Der Suggestivfrage folgt zugleich eine Aufforderung zum Benimm, wobei offen bleibt, ob die Greisin der Mimikry des jungen, angeblich alkhoholsüchtigen Mannes überhaupt Glauben schenkt: »Aber du weißt, Juden trinken nicht.«

Juden in der DDR – eine Geschichte von Angst und Verstellung, die in Chaim Noll ihren skrupulösen Chronisten gefunden hat. Da ist zum Beispiel Olga, deren Großeltern von den Nazis umgebracht wurden, während die Eltern in Stalins Straflagern verschwanden – eine freundliche ältere Frau in einer adrett eingerichteten Mauerblick-Wohnung in Treptow, die dennoch überzeugtes SED-Mitglied ist und den Kontakt zum Ich-Erzähler abbricht, sobald dieser in die andere Stadthälfte gewechselt war.

Auch das eine Stärke dieser Prosa, die Texte aus 25 Jahren versammelt: Das Unausgesprochene/Unaussprechliche wird benannt, ohne in Didaktik zu verfallen. Dennoch macht der Autor – vor allem in der Titelerzählung »Schlaflos in Tel Aviv«, die während einer deutsch-israelischen Tagung spielt – kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass Intellektuelle, die sich vehement gegen Premier Benjamin Netanjahus Politik wenden, vor allem unter Geltungsdrang und Realitätsverweigerung leiden.

Literarisch zeitigt diese selbstverständlich legitime Position freilich einen Mangel an Ambivalenz, welcher der Prosa schadet. Zeitgenossen wie Avi Primor auch habituell zu karikieren, mag zwar lustig erscheinen, provoziert ob der hier fehlenden kritischen Selbstreflexion dann aber doch vor allem diese Frage: Was wohl hätte ein Saul Bellow oder ein Philip Roth aus diesem Intellektuellen-Setting gemacht?

Crocs Was die Geschichte freilich rettet – und gleichzeitig die Erzählung »Barfuß in Crocs« zu einem veritablen Meisterstück macht: Nolls Fähigkeit, scheinbar mühelos zwischen den Zeiten zu switchen, von quirliger Tel Aviver Flughafen-Szenerie (wo er die neuhebräische, Merkel-freundliche Wortschöpfung »ha kanzlerit« aufschnappt) in die längst entschwundene deutsch-jüdische Welt der Kerrs, Bubers und Hardens abzutauchen, um dann erneut in der heterogenen Moderne Israels zu landen.

Und keine dürre Konstruktion, nirgends. Es ist etwas Kraftvolles in dieser Prosa, von einem israelischen Staatsbürger auf Deutsch geschrieben, der sich wohl zeitlebens an den bohrenden Blick jener Frau in Ost-Berlin erinnern wird: Die frühe Zuweisung von Fremdheit gebiert eine Perspektive von immenser innerer Freiheit. Mehr vermag Literatur kaum zu leisten.

Chaim Noll: »Schlaflos in Tel Aviv«. Erzählungen. Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 248 S., 21 €

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025