Ich nehme es mir jedes Jahr vor, aber dieses Jahr, wenn ich einen zweiten Seder für meine Freunde hoste, werde ich es umsetzen: Mein Pessach-Menü wird weniger aschkenasisch aussehen. Ich denke an Pessach 2001, ich war elf Jahre alt und zum ersten Mal bei meiner sefardischen Familie in Argentinien.
Die erste Irritation: Die »kleine Familienversammlung« am ersten Sederabend bestand aus rund 25 Menschen – kleiner Kreis. Die zweite Irritation: Außer Mazza und Sederteller war mir keine der Speisen auf dem Tisch bekannt.
Ich fragte meine Mutter: »Mama, ist das koscher le Pessach?«, und sie sagte: »Ja, es gibt viele verschiedene koscher le Pessachs.«
Verschiedene koscher le Pessachs – also auch verschiedene Jüdischseins. Damals verstand ich zum ersten Mal: Ich bin in der Summe zwei verschiedene jüdische Traditionen. In mir existiert auch ein Jüdischsein ohne brutal dezimierte Familie, ohne Mazzeknödel. Welche Richtigkeit hat dann eigentlich das Etikett »typisch jüdisch«?
Jüdisches Essen ist nicht Bagel, Brisket oder Karpfen per se
Jüdisches Essen ist eine Verschmelzung von Knappheit, Sesshaftigkeit, Anschlussfähigkeit. Jüdisches Essen ist jüdische Erzählung und örtliche Möglichkeit. Es ist nicht Bagel, Brisket oder Karpfen per se – sondern das, was in jeweiligen Kontexten möglich war. Das, was unsere Geschichte und Erinnerung erzählt, woher wir kommen, was uns geblieben ist.
Was heute als »typisch jüdisch« gilt, entsteht auch aus Sichtbarkeit. Und die sozialen Kontexte, aus denen so etwas wie ein jüdischer Mainstream hervorgeht, sind heute vor allem die USA und Israel.
Aschkenasisch wurde »typisch jüdisch«, alles andere »typisch israelisch«. Die Diaspora: matschig, warm, schwer. Israel: bunt, knackig, scharf.
Jüdisches Essen sind aber auch meine ehemaligen nichtjüdischen Mitbewohnerinnen, die mich zu Chanukka mit einem großen Teller in Öl eingelegter Antipasti überraschten, weil sie gegoogelt hatten, dass man zu Chanukka Fettiges isst.
Innerjüdische Aschkenormativität lässt oft wenig Raum für sefardische und misrachische Geschichten.
Und ich denke an Miriam Yosef und ihren Text »(Be)longing – Sabich Zengoula T’beet«, den sie 2023 beim Jewish Women* Empowerment Summit vortrug. Sie spricht vom »Diasporic Sorrow«, vom Verlust durch erzwungene Migration, davon, dass Essen oft an die Stelle von Sprache und Heimat tritt. Und vom Spannungsfeld zwischen innerjüdischer Aschkenormativität, die wenig Raum für sefardische und misrachische Geschichten lässt, und der antisemitischen Behauptung, deren Speisen seien kulturelle Aneignung.
Miriam Yosef schreibt: »Wie können wir uns etwas aneignen oder gar stehlen, das bereits uns gehört? Unsere Familien lebten in Bagdad, seit es Babylon war. Unsere Kulturen und Rezepte sind nicht gestohlen, sie wurden auf den Schultern vertriebener jüdischer Geflüchteter getragen.«
Essen ist ein Marker unserer Herkunftsgeschichten. Es geht nicht darum, was besser ist, sondern was diese Speisen über uns erzählen – in einer Zeit, in der andere oft bestimmen wollen, wer wir sind.
Dieses Jahr, wenn wir vor der historischen und aktuellen Kulisse kollektiver Unfreiheit Seder feiern, erinnern wir uns: Freiheit bedeutet zu wissen, wer wir sind. Deshalb gibt es dieses Jahr auf meinem Tisch neben der Mazzeknödelsuppe auch eine türkisch-sefardische Mina de Espinaca.