Ein führender französischer Rabbiner sagte 2013, 80 Prozent der jungen Leute, die in seiner Synagoge heirateten, sähen für sich in Frankreich keine Zukunft. Der Grund dafür war und ist Antisemitismus: zunehmende antijüdische Vorurteile, antijüdische Schikanen, antijüdische Gewalt.
Die mehr als eine halbe Million französischer Juden sind Überlebende der Schoa oder Flüchtlinge aus islamischen Ländern, beziehungsweise deren Kinder und Enkel. Sie wissen aus eigener Erfahrung oder aus dem, was Zeitzeugen ihnen berichtet haben, wie das, was in der Vergangenheit geschah, passieren konnte. Und sie haben Angst, dass es sich wiederholen könnte.
tradition Es gibt drei Faktoren, die das Ansteigen des Antisemitismus in Frankreich erklären. Der erste ist eine dauerhafte »hausgemachte« antisemitische Tradition – wie in anderen europäischen Ländern auch –, sowohl unter den Eliten wie bei der Bevölkerung. Nennen wir sie den klassischen Antisemitismus. Im Zweiten Weltkrieg kulminierte diese Tradition in der Rassenpolitik des Vichy-Regimes und seiner Mittäterschaft beim Holocaust. Nach dem Krieg wurde diese Tradition verworfen, zumindest im öffentlichen Raum – wie auch in fast allen anderen westlichen und europäischen Nationen.
1967 aber wurde sie wiedererweckt, und zwar aus einer unerwarteten Ecke, von Charles de Gaulle, dem charismatischen einstigen Führer der französischen Résistance gegen Vichy und die Nazis. De Gaulle, damals in seiner zweiten Amtszeit als Präsident, schlug sich nach dem Sechstagekrieg 1967 auf die Seite der Araber. In einer Pressekonferenz am 27. November 1967 ließ er sich nicht nur äußerst feindselig über Israel aus, dessen Legitimität als Staat er infrage stellte. Er nahm sich auch die Juden insgesamt vor, die er im Stil der Protokolle der Weisen von Zion als ein »elitäres, selbstbewusstes und herrschsüchtiges Volk« beschrieb, das über »gewaltigen Einfluss an Geld, Einfluss und Propaganda« verfüge.
So wie die proarabische und anti-israelische Linie, die de Gaulle damals einschlug, bis heute ein Kernstück der französischen Außenpolitik geblieben ist und auch die europäische Politik prägt, haben seine Bemerkungen über das »elitäre Volk« über die Jahre Antisemiten aller Richtungen, ob links oder rechts, als Ansporn oder Rechtfertigung gedient.
migration Der zweite Faktor für den Anstieg des Antisemitismus in Frankreich kommt von außen. Es ist die Auswirkung der massenhaften Einwanderung, genauer gesagt, der massenhaften islamischen Einwanderung.
Frankreichs Gesamtbevölkerung beträgt einschließlich seiner Überseegebiete 67 Millionen Menschen. Sieben bis zehn Millionen davon sind nichteuropäische und meist muslimische Einwanderer oder deren Kinder. In den jüngeren Altersgruppen sind die Zahlen noch höher: 20 bis 25 Prozent aller Einwohner Frankreichs unter 25 Jahren sind nichteuropäischer und muslimischer Herkunft.
Wenn die französische Mehrheitsbevölkerung nicht entweder für einen eigenen Babyboom sorgt oder die Einwanderung gestoppt wird oder die Fruchtbarkeitsrate unter den Migranten sinkt, wird sich Frankreich in den nächsten 50 Jahren zu einem vielrassischen multiethnischen und halb-islamisierten Land entwickeln.
Leider hängt die Mehrzahl der französischen Muslime unverändert Formen von Judenhass an, wie sie in der islamischen Welt generell vorherrschen. Die meisten von ihnen zeigen sich resistent gegen jede Form von Information und Bildung zum Holocaust. Und das Gros antijüdischer Taten – von Pöbeleien oder Angriffen auf der Straße und in Schulen bis zu Brandstiftung und Mord – ist das Werk von Muslimen.
Das gilt – um nur die drei bekanntesten Fälle zu nennen – für Ilan Halimi, der 2006 von einer muslimischen Gang zu Tode gefoltert wurde, ebenso wie für das Massaker von Toulouse 2012, als drei jüdische Schulkinder und ein Lehrer von dem islamistischen Terroristen Mohammed Merah erschossen wurden, und zuletzt für die Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt in Paris, bei der der IS-Anhänger Amedy Coulibaly am Freitag vergangener Woche Yohan Cohen, Yoav Hattab, Philippe Braham und François-Michel Saada ermordete.
konfusion Der dritte Faktor ist die Verwirrung in den Köpfen der im Lande geborenen christlichen Franzosen, die noch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Sie fühlen sich vom Islam nicht weniger bedroht als ihre jüdischen Mitbürger. 73 Prozent aller Franzosen haben einer Umfrage zufolge eine negative Meinung über den Islam.
Logisch müsste daraus eigentlich folgen, dass Frankreichs Juden, die anderen nichtmuslimischen Bürger sowie die französischen Muslime, die Anhänger der westlichen und demokratischen Werte sind, sich gemeinsam der Herausforderung durch den radikalen Islam stellen. Einige aus allen drei Gruppen tun dies auch tatsächlich.
Viele »Bio-Franzosen« allerdings nehmen eine völlig andere Haltung ein. Statt sich mit den Juden gegen den radikalen Islam zu verbünden, verweisen sie stattdessen auf äußerliche Ähnlichkeiten zwischen dem Judentum (jedenfalls dem traditionellen) und dem Islam – seien es die verwandten semitischen Sprachen Hebräisch und Arabisch, Speisevorschriften und rituelles Schlachten, Beschneidung oder die Rolle der Frau. Daraus folgernd bekämpfen sie beide Religionen oder Gemeinschaften gleichermaßen.
Manche führenden Politiker unterstützen solche Einstellungen, um so Wählerstimmen zu gewinnen. 2012 forderte François Fillon, damals Premierminister unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy, sowohl Islam wie Judentum auf, »Traditionen ihrer Vorfahren« aufzugeben, »die heute keine große Bedeutung mehr haben« – gemeint waren das jüdische Schächten und das muslimische Halal-Schlachten. Marine le Pen, die Anführerin des rechtsextremen Front National, schlug in einem Interview mit der Zeitung »Le Monde« im September 2012 vor, das öffentliche Tragen von Kippot ebenso zu untersagen, wie die Verschleierung von Frauen.
revolution Hier mag klassischer Antisemitismus mit im Spiel sein. Hinzu kommen aber spezifisch französische revolutionäre Traditionen. Denker von Edmund Burke bis Jacob Leib Talmon haben auf die großen Unterschiede verwiesen, die zwischen der Englischen Revolution 1688 und der in Amerika 1776 einerseits und der Französischen Revolution von 1789 bestehen.
Einer dieser Unterschiede ist, dass die Angelsachsen die Freiheit für alle Kirchen und Glaubensrichtungen forderten und durchsetzten, während die Franzosen die Freiheit der Religion einschränken, ja sie abschaffen wollte. Die Juden sollten als Preis der bürgerlichen Gleichberechtigung sowohl auf ihren Glauben – oder wenigstens auf viele seiner wesentlichen Riten – verzichten, als auch auf die Idee eines gemeinsamen Schicksals und einer gemeinsamen Identität.
Wie der Graf von Clermont-Tonnerre, einer der Vorreiter der Judenemanzipation in Frankreich, es formulierte: »Für die Juden als Einzelne alles, für die Juden als Gruppe nichts!«
All diese Faktoren fließen heute ineinander. Wir erleben eine Art »Fusionsantisemitismus«. Er wird wahrscheinlich in der allgemeinen und politischen Kultur des 21. Jahrhunderts eine immer wichtigere Rolle gewinnen und ironischerweise dazu beitragen, die Differenzen zwischen Einheimischen und Migranten zu überbrücken. Ob wir ausreichend gewappnet sind, diesen neuen Antisemitismus zu beobachten und zu bekämpfen, wird sich zeigen müssen.
Der Autor ist Gründer und Präsident des »Institut Jean-Jacques Rousseau« in Paris.