Drei Minuten und 33 Sekunden, so viel konnte das Holocaust-Museum in Washington aus einem alten, stark beschädigten 16-Millimeter-Film retten. Der Amerikaner Glenn Kurtz hatte ihn 2009 in einem Schrank in Palm Beach Gardens in Florida gefunden.
Es war sein Großvater, der diese touristischen Amateuraufnahmen 1938 im jüdischen Viertel des ostpolnischen Nasielsk – dem Ort seiner Herkunft – gedreht hatte. Die niederländische Historikerin und Filmregisseurin Bianca Stigter hat das kurze Stück zu einem filmischen Essay auf 69 Minuten verlängert und im Jahr 2022 unter dem Titel 3 Minutes. A Lengthening der Öffentlichkeit vorgestellt.
ZEITZEUGEN Anfänglich war nicht einmal bekannt, wo das Filmfragment aufgenommen worden war. Später wurden in den USA zwei Zeitzeugen gefunden, zum Teil sind sie auf den Bildern zu sehen. Sie kommentieren die Aufnahmen, können einige Menschen identifizieren, erinnern sich in Anekdoten. Im Film selbst schauen 150 – meist Kinder und junge Leute – neugierig, fröhlich und sorglos in die Kamera, winken oder gestikulieren. Die Filmkamera per se scheint seinerzeit ein Ereignis gewesen zu sein.
Darf man die Schoa filmisch darstellen, etwa unter der Verwendung von Archivmaterial?
Vor Ort erinnert heute nichts mehr an die frühere jüdische Bevölkerung. Damals, 1938, stellten Juden noch etwa die Hälfte der rund 6000 Einwohner des Städtchens. Archivunterlagen belegen, so der Kommentar aus dem Off, was mit den jüdischen Bewohnern geschehen ist: Fast alle wurden nach dem Einmarsch der Deutschen 1939 über verschiedene Zwischenstationen ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Nur sieben von ihnen konnten rechtzeitig fliehen oder überlebten auf andere Weise.
Die Filmemacherin versucht, möglichst viele Aspekte des damaligen Lebens, aber auch der Deportation über die Audio-Kommentare zu vermitteln, sie vergrößert die Aufnahmen, zoomt die Gesichter heran. Nur wenige bekommen Namen, aber von allen zeigt sie Porträts und versucht damit, ihnen die Würde der Einzigartigkeit zurückzugeben.
hearing In der vergangenen Woche wurde dieser Film in den Räumen der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main vorgeführt. Den Rahmen bildete ein zweitägiges Hearing zum Thema »Filme nach Auschwitz«. Partner dieser Veranstaltung waren das Lehr- und Forschungsforum »Erziehung nach Auschwitz« der Goethe-Universität Frankfurt und die Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden.
Unter den 30 bis 40 Teilnehmern waren Film- und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Aktive in der Erinnerungsarbeit und Studierende. Im Raum stand die Frage, welche Bedeutung zeitgenössische Medien, besonders Filme, haben, um historisches Wissen über die Schoa im kollektiven Gedächtnis zu erhalten.
Jugendliche und junge Erwachsene von heute hätten kaum noch eine Berührung zu den Generationen, die unter dem Eindruck der Nazi-Jahre 1933 bis 1945 aufgewachsen sind, gab Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung, in seiner Tagungseinführung zu bedenken.
Tatsächlich sind heutzutage viele von ihnen Kinder von Einwanderern, die sich diesem Teil der deutschen Geschichte weder verbunden noch verpflichtet fühlen. Die Zahl derer, so Kiesel, die sich nicht mehr über geschichtliche Erinnerungen prägen lassen wollen, wachse. Nachkommen von Überlebenden der Schoa dagegen könnten sich nicht von der Geschichte ihrer Gemeinschaft entfernen, auch für ihre Zukunftsplanungen bliebe sie von Gewicht.
Ethik Darf man die Schoa filmisch darstellen, etwa unter Verwendung von Archivmaterial, fragte Wolfgang Meseth vom Lehr- und Forschungsforum in seinem Beitrag. Das ist in frühen Holocaust-Filmen häufig geschehen: Wachtürme, ausgemergelte, fast verhungerte Menschen, Stacheldraht, Leichenberge.
Der Frankfurter Professor für Erziehungswissenschaft erinnerte an die Vorbehalte des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Theodor W. Adorno. Darstellungen, so habe er schon in den frühen 50er-Jahren betont, könnten weder der Monstrosität der systematischen Tötungsmaschinerie der Nazis noch den Leiden und Qualen der zahllosen Opfer gerecht werden.
Filmdokumente aus den Archiven zeigten zudem meist die Täterperspektive oder wurden zur Beweisführung von den Alliierten nach Kriegsende hergestellt. Welche filmischen Mittel aber sind angemessen, um die von Adorno formulierte Forderung, eine Wiederholung von Auschwitz vor allem durch Erziehung zu verhindern, umzusetzen?
verzicht Claude Lanzmann hat 1985 in seinem neunstündigen Dokumentarfilm Shoah völlig auf jegliches dokumentarische Bildmaterial verzichtet und nur die Zeitzeugen und deren Erinnerungen zu Wort kommen lassen. Für die Frankfurter Gedächtnisforscherin Astrid Erll gehört Shoah in die Kategorie der »erinnerungsreflexiven Filme«.
Ein solches Monumentalwerk kann auf die Geschichtsschreibung einwirken, aber kann es auch pädagogisch wirksam sein? Das vermögen wohl eher die von Erll »erinnerungsproduktiv« genannten Stücke. Etwa die vierteilige amerikanische Spielfilmserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss, die 1979 in Deutschland ausgestrahlt wurde.
Diese kommerziell entwickelte, fiktionale Geschichte erzählt mit Schauspielern und Kulissen pars pro toto das Schicksal einer Familie. Im deutschsprachigen Raum hat sie das Gespräch zwischen den Generationen forciert. Kritiker werfen dieser Art der Darstellung jedoch vor – analog zu Adornos Einwänden –, den Holocaust zu trivialisieren. Ähnlich auch die Kritik an Steven Spielbergs 1993 erschienenem Film Schindlers Liste, der immerhin wahre Begebenheiten zur Grundlage hatte. Aber stoßen derlei Darstellungen heute noch bei jungen Menschen auf Resonanz?
Filmdokumente aus den Archiven zeigen meist die Täterperspektive.
Eine aktuelle israelische Filmerzählung ist erst seit diesem Jahr auf Festivals, aber bislang noch nicht im Kino zu sehen: Delegation von Asaf Saban. Sie versucht, das Publikum in den Prozess der Auseinandersetzung um die Schoa hineinzuziehen.
Viele israelische Schüler fahren am Ende ihrer Schulzeit mit ihren Lehrern nach Polen und besuchen ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager, vor allem Auschwitz. Gefordert ist von ihnen eine existenzielle, quasi kathartische Begegnung mit der Schoa. Pädagogisches Ziel ist, dass die Heranwachsenden die Erkenntnis gewinnen, dass es wichtig ist, den jüdischen Staat zu verteidigen.
Anspruch »Nie wieder Opfer sein« ist das wichtigste Leitmotiv für die Existenz des Staates Israel. Für die Heranwachsenden brechen nach der Schulzeit die Jahre des Armeedienstes an. Der Film nimmt die Zuschauer nicht nur an die heute musealen Orte des Schreckens mit. Er zeigt auch, wie Teilnehmer der Reise mit den Erwartungen umgehen, die an sie gestellt werden. Er spielt mit Tändeleien zwischen den Schülerinnen und Schülern.
Und er demonstriert ihre Ausbrüche aus dem Schema, ihre Versuche, mitzuspielen, aber den pädagogischen Überfrachtungen auszuweichen. Grenzüberschreitungen ebenso wie Versuche der Hauptpersonen mit eigenen Erfahrungen an den allzu bekannten fremden Orten prägen den Film. Vieles wird nur anerzählt, die Zuschauer müssen die Geschichte in ihren Köpfen weiterspinnen.
Ähnlich wie 3 Minutes. A Lengthening ist auch dieser neue Film nach Auschwitz keiner über die Schoa. In Delegation wird sie miterzählt. Ist das für ein nichtjüdisches Publikum überhaupt zugänglich oder reduziert sich deren Wahrnehmung auf die erotischen Zwischentöne?
»Bis zu einem gewissen Grade sehen alle Menschen das, was sie interessiert«, lautet die Antwort der Babelsberger Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg. »Deswegen haben ja so viele historische Filme eine Boy-meets-Girl-Geschichte am Rand.« Und zur Montage des Films: »Dass ein junges Publikum die Erinnerungsaspekte nicht wahrnimmt, sehe ich nicht als Risiko.«