Shoah Foundation

Fragen wegen Buchenwald

Robert J. Williams über ein Projekt zum 7. Oktober, den Lebensmut von Shaul Ladany und die Perspektive eines jeden Einzelnen

von Katrin Richter  14.05.2024 19:41 Uhr

Möchte am liebsten alle Zeitzeugen-Interviews frei zugänglich machen: der Direktor der Shoah Foundation, Robert J. Williams Foto: © USC

Robert J. Williams über ein Projekt zum 7. Oktober, den Lebensmut von Shaul Ladany und die Perspektive eines jeden Einzelnen

von Katrin Richter  14.05.2024 19:41 Uhr

Herr Williams, die USC Shoah Foundation gibt es seit 30 Jahren. Sie hat rund 57.000 Zeitzeugen-Aussagen archiviert. Nach dem 7. Oktober 2023 haben Sie auch Überlebende des Hamas-Terrors befragt. Können Sie das Projekt kurz beschreiben?
Uns war schnell klar, dass wir die Pflicht hatten, Zeugenaussagen von Überlebenden dieser Terroranschläge zu sammeln. Bis heute haben wir 400 Aussagen aufgenommen. Die ersten Interviews haben wir acht Tage nach dem Massaker aufgenommen. Ich werde oft gefragt, aus welchem Grund wir nach so kurzer Zeit bereits mit den Interviews angefangen haben.

Was ist Ihre Antwort?
Wegen Buchenwald. Bei der Befreiung von Buchenwald nahm die US-Armee Aussagen von Überlebenden auf, von jüdischen und nichtjüdischen. Sie wurden schließlich Teil des sogenannten Buchenwald-Berichts. Die Zeugenaussagen, die unmittelbar danach von Überlebenden gemacht wurden, hatten einen sehr hohen Grad an historischer Genauigkeit. Vergleicht man diese Zeugenaussagen mit den mündlichen Überlieferungen, die 40 oder 50 Jahre später aufgenommen wurden, so erinnerten sich die Überlebenden an Aspekte, die sie in den 40er-Jahren vergessen hatten, und sprachen mehr über ihre Gefühle. Die Aufnahmen von den Geschehnissen des 7. Oktober sind nur ein kleiner Teil einer größeren Sammlung, damit wir den heutigen Antisemitismus verstehen können.

Sind die Interviews genauso aufgebaut wie die anderen der Shoah Foundation?
Ja, jeder Überlebende hat immer ein Stück Papier mit seinem Namen, seinem Geburtsdatum und dem Datum des Interviews. Wir hatten ein Filmteam vor Ort, sodass wir schneller als die meisten amerikanischen Organisationen handeln konnten.

Wer kann die Interviews sehen?
Etwa 270 der 400 Gespräche sind bereits auf unserer Website frei zugänglich. Wir werden alle zur Verfügung stellen, bis auf ein paar wenige aus rechtlichen Gründen. Die Leute haben darum gebeten, dass wir einige vertraulich behandeln. Aber alle Zeugnisse über Antisemitismus werden frei zugänglich sein. Mein Ziel ist es, sämtliche 57.000 Zeugnisse bis zum Ende dieses Kalenderjahres frei zugänglich zu machen.

Wie wirken die Interviews?
Ich bin von Haus aus politischer Historiker. Man kann diese Ereignisse erst verstehen, wenn man weiß, wie sie sich auf den Einzelnen auswirken. Und jedes Individuum hat, je nachdem, wo es während der Schoa war und welchen Hintergrund es hatte, eine andere Perspektive. Nicht jedes Opfer war Anne Frank, nicht jeder Überlebende war Primo Levi oder Elie Wiesel. Einer der Überlebenden im Film über die Shoah Foundation war Shaul Ladany. Kennen Sie ihn?

Ja.
Dann wissen Sie, dass er nicht nur ein Schoa-Überlebender ist, sondern auch einer der Überlebenden des Attentats bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Wenn also jemand Grund hatte, auf die Welt wütend zu sein, dann er.

Und Shaul Ladany ist es absolut nicht.
Nein, er ist ein komplett positiver Mensch. Shaul erklärt Dinge auf eine Art und Weise, wie nur ein Schoa-Überlebender es kann. Ich als Historiker könnte das nicht, das kann nur die Stimme eines Überlebenden.

Wie denken Sie über die selbst ernannten propalästinensischen Proteste an amerikanischen Unis?
Zuerst einmal: Jeder, der das menschliche Leben schätzt, möchte, dass das palästinensische Volk in Freiheit und Frieden leben kann. Aber es ist von seinen Führern verraten worden, besonders in Gaza. Ich lehne es auch ab, die Proteste als propalästinensisch zu bezeichnen. Ich würde sagen, dass die Proteste bestenfalls anti-israelisch sind. Sie haben einer gewissen Form von Antisemitismus Tür und Tor geöffnet. Ich glaube, dass die Studenten, die von der »Intifada-Revolution« sprechen, sich oft nicht bewusst sind, dass es sich dabei um Antisemitismus handelt. Aber wir wissen, dass es so ist. Es gibt eine Reihe von Externen, die sich einmischen und diese besondere Form des Hasses etablieren wollen. Das ist sehr beunruhigend. Aber: Zur Wahrheit gehört auch, dass es sich um ein Mikrophänomen handelt, das viel mediale Beachtung erhält.

Auch weil es Universitäten sind, die international bekannt sind.
Wenn Menschen gegen die israelische Regierung protestieren wollen, wie es die meisten Israelis tun, dann ist das in Ordnung – wenn es legitim ist und nicht in antisemitische Rhetorik oder die Verwendung antisemitischer Symbole oder Beschimpfungen gegen die jüdische Diaspora ausartet. Leider führt dies allzu oft zu antisemitischen Ergebnissen. Das Gleiche gilt für die Vereinigten Staaten. Mein Land hat einige sehr problematische Regierungen gehabt, die sehr weit von unseren Idealen entfernt waren. Aber niemand ruft dabei zur Zerstörung der Vereinigten Staaten auf.

Wird Ihre Arbeit mit den Wahlen im November härter oder einfacher?
Oh, viel härter. Aber das hat nicht nur mit den Wahlen in den Vereinigten Staaten zu tun, sondern: 60 Prozent der Weltbevölkerung gehen dieses Jahr zur Wahl. Wenn Wahlen anstehen, suchen die Menschen nach Problemen – und finden sie. Und dann suchen sie oft nach einem Schuldigen. Leider waren das in den vergangenen, sagen wir, 2300 Jahren in der Regel die Juden. Ich mache mir große Sorgen, dass es für uns alle noch viel schwieriger wird. Ich glaube, zumindest in meinem Land wächst das Bewusstsein, dass Antisemitismus nicht mit unseren Werten vereinbar ist, und es gibt eine Reaktion darauf. Aber ich mache mir immer noch Sorgen, dass sich rechte Politiker nur auf den linken Antisemitismus und linke Politiker nur auf den rechten Antisemitismus konzentrieren wollen.

Mit dem Finci-Viterbi Executive Director der Shoah Foundation sprach Katrin Richter.

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