Warum Menschen zu Autorenlesungen gehen, habe ich nie verstanden. Das Schöne an Büchern ist doch, dass man sie daheim bequem alleine lesen kann, ohne Rauchverbot, bei Rotwein, mit den Füßen auf dem Tisch. Langweilige Passagen kann man überblättern, spannende Stellen in Muße genießen. Bei Lesungen hingegen muss man sich alles anhören, was vorgetragen wird, oft leiernd und genuschelt. Die wenigsten Autoren sind Vortragskünstler.
Aber Lesungen sind populär. Bei Verlagen und Buchhandlungen, weil sie bei der Gelegenheit viele Exemplare des Buches verkaufen können; beim Publikum, weil es den Schriftsteller persönlich kennenlernen und ihm hinterher Fragen stellen darf. Zum Beispiel, wie autobiografisch das Buch eigentlich ist. (Antwort: So gut wie nicht. Hätten Literaten ein interessantes Dasein, würden sie es leben, statt mit erfundenen Geschehnissen und Personen die Leere ihrer Existenz zu füllen.)
»Eigentlich hatte ich mir den ganz anders vorgestellt«, sagt die Gattin leise.
Gern gefragt wird auch, woher der Verfasser seine Ideen bezieht. (Antwort: Oft von Freunden und Bekannten, die ihm bei Partys oder im Café Erlebnisse erzählen, die der Bücherschreiber anschließend gnadenlos verwurstet und als eigene Inspiration ausgibt.)
ANEKDOTEN Noch lieber als um Fragen zu stellen, nutzen Besucher von Lesungen die Gelegenheit allerdings dazu, ihre Meinung zu Buch und Thema kundzutun. Vor allem, wenn das Buch einen jüdischen Bezug hat, fühlen die Leute sich zu Grundsatzerklärungen aufgerufen. Das Werk muss dazu nicht politisch oder historisch sein. Selbst wenn es ein Kochbuch ist oder eine Sammlung lustiger Anekdoten, meldet sich mit Sicherheit jemand aus dem Publikum und erklärt: »Was ihr mit den Palästinensern macht, ist aber nicht in Ordnung!«
Gern wird auch auf Juden im eigenen Bekanntenkreis verwiesen, die die Dinge völlig anders sehen als der Verfasser. Erwähnung findet ebenso stets die letzte Israelreise eines Lesers. (»Schon interessant, aber bei den Preisen wird man übel abgezockt!«)
Sind Juden im Publikum, melden die sich nicht öffentlich, sondern ziehen den Autor hinterher vertraulich zur Seite.
MÖNCHENGLADBACH Sind Juden im Publikum, melden die sich nicht öffentlich, sondern ziehen den Autor hinterher vertraulich zur Seite, um ihm mahnend mitzuteilen, dass er dies, das oder jenes besser nicht hätte schreiben sollen, weil es den Antisemitismus fördern könnte. Oder man will wissen, ob sich hinter einer bestimmten Figur nicht Pommer aus Mönchengladbach verbirgt. Einwände des Verfassers, dass er besagten Pommer nicht kennt und noch nie in Mönchengladbach war, werden verständnisvoll lächelnd beiseitegeschoben: »Ja, ich weiß, Sie dürfen das nicht sagen, sonst verklagt er Sie. Dabei haben Sie die schlimmsten Sachen gar nicht geschrieben.«
Es folgt eine längere Aufzählung diverser Schweinereien von Pommer, die der Autor dankbar im Kopf registriert, um sie in seinem nächsten Buch einzubauen (siehe oben unter Inspiration). Und während die letzten Besucher die Lesung verlassen, hört er noch, wie eine Frau zu ihrem Gatten sagt: »Eigentlich hatte ich mir den ganz anders vorgestellt.«