An die 100.000 Juden leben heute in Budapest. Die wenigsten von ihnen sind religiös, erzählt Linda Verö-Bán. Auszusprechen, dass man jüdisch ist, falle vielen immer noch schwer. »Sie kommen und sagen: ›Meine Mutter war auch ...‹« Und dann imitiert Verö-Bán die typische Handbewegung, die auf diese Worte folgt: ein Hin- und Herwedeln zwischen dem Sprecher und der Rebbezin. Denn das ist Verö-Bán: die Frau des Rabbiners Támas Verö.
Sie ist aber noch viel mehr. Wenn man der Frau mit dem Lockenkopf gegenübersitzt und sie über ihre Arbeit spricht, wird die Begeisterung, mit der sie sich ihrer Aufgabe widmet, sichtbar. Nach ihrer Hochzeit war Verö-Bán schnell klar, dass die Gemeinde in Budapest vor allem eines brauchte: jüdische Erziehung. Und die betreibt sie mit vollem Elan, vor allem durch ihre Kinderbücher.
Hashomer Linda Verö-Bán kam 1976 in Budapest zur Welt. »Ich bin im Kommunismus aufgewachsen. Im Vergleich zu anderen Juden war unsere Familie religiös. Aber objektiv gesehen waren wir das natürlich nicht. Das ging ja auch gar nicht.« Koscher zu leben, war nicht möglich. »Aber wir hatten eine sehr starke jüdische Identität.« Die Familie hielt die Feiertage, ging in die Synagoge. Darüber musste Linda als Kind allerdings schweigen. Zu Jom Kippur sei sie eben jedes Jahr »krank« gewesen, um nicht zur Schule zu müssen.
1989 kam dann die politische Wende. Damals war Linda 13, Mitglied sowohl beim linkszionistischen Jugendverband Hashomer Hatzair als auch bei den Nationalreligiösen von Bnei Akiva. Als eine orthodoxe Schule in Budapest ihre Pforten öffnete, gehörte sie zum ersten Jahrgang. »Es war eine sehr religiöse Schule. Und gleichzeitig war es ein sehr lustiger Ort. Plötzlich wollte nämlich jeder jüdisch sein. In meiner Klasse waren auch nichtjüdische Kinder. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal eine Klassenkameradin gefragt habe, ob sie jüdisch sei. Sie sagte: Nein, ich nicht, aber unser Nachbar.«
Schweden Für Linda Verö-Bán und viele der anderen Jugendlichen war die Schule vor allem ein Ort, an dem man endlich jüdisch sein durfte und konnte. Nach dem Abitur ging sie nach Israel, nahm dort auch die Staatsbürgerschaft an und studierte Kunstgeschichte. Nach fünf Jahren zog es sie weiter nach Schweden. Dort schrieb sie sich in Stockholm für Jüdische Studien ein. »Das ist natürlich auch witzig: zuerst nach Israel zu gehen, um dann in Schweden das Judentum zu studieren.«
Mit der Hochzeit übersiedelte die junge Frau zurück in ihre Heimat Budapest. Ihren Mann Támas hatte sie bereits im Alter von 14 Jahren beim Hashomer Hatzair kennengelernt. Heute haben sie zwei Töchter. Eine ist zehn Jahre alt, die andere fünf. Nach der Heirat begann Linda Verö-Bán, Kurse über das Judentum anzubieten. Nach einiger Zeit fokussierte sie ihre Bemühungen auf junge Familien mit Kindern. »Viele Juden, die mit dem Judentum überhaupt nicht verbunden sind, beginnen sich dafür zu interessieren, wenn sie Kinder bekommen. Plötzlich haben sie das Bedürfnis, etwas weiterzugeben, kommen aber darauf, dass sie eigentlich nichts wissen. Wie auch? Sie selbst hatten ja keine jüdische Erziehung.«
Viele Eltern kamen auch zu ihr und klagten, es gebe keine Lehrmaterialien, nichts, womit sie mit den Kindern arbeiten können. »Und das stimmt. Es gibt keine Bücher über das Judentum auf Ungarisch. Man findet auch nichts im Internet. So kam ich zum Bücherschreiben. Ich hatte nie die Absicht, Autorin zu werden. Zuerst wollte ich nur Bücher, die es bereits gibt, übersetzen. Aber ich habe einfach nichts gefunden, das zur ungarischen Gemeinde passt.«
2007 erschien ihr erstes Kinderbuch: Alles über Chanukka. Auf Ungarisch natürlich. Das Chanukka-Buch und die Interaktive Haggada aus diesem Frühjahr sind inzwischen auch auf Deutsch erhältlich. Andere Publikationen, zum Beispiel ein Gebetbuch, ein Liederbuch, einen Band über jüdisches Leben in Budapest hat Linda Verö-Bán ins Englische übersetzen lassen. Auf Ungarisch, Englisch, Russisch und Deutsch hat sie zudem Was bedeutet es, jüdisch zu sein? herausgebracht.
Kritik Gerade dieser Titel liegt der Verfasserin am Herzen. Auch und gerade, weil sie dafür nicht nur Zuspruch, sondern auch Kritik aus den eigenen Reihen einstecken musste. Warum? Verö-Bán spricht hier unter anderem so heikle Fragen wie die an, ob man an Gott glauben muss, um jüdisch zu sein. Oder ob die Bibelgeschichten wahr oder erfunden sind. »Ja, es ist ein Kinderbuch, aber eigentlich ist es ein Buch für die Eltern. Man liest gemeinsam darin, und dann spricht man darüber. Ich beantworte die Fragen, die ich hier stelle, nicht. Die Antworten muss man jeweils in der eigenen Familie finden.«
Die Rebbezin macht wieder die Handbewegung, die sie schon so oft gesehen hat, wenn Menschen es nicht schaffen, zu verbalisieren, dass sie jüdisch sind. Sie lacht. Und sagt mit kräftiger Stimme: »Man muss die Leute ermuntern, sich vor den Spiegel zu stellen und es auszusprechen: ›Ich bin Jude‹. Dieses Buch gibt Menschen die Kraft, es zu tun. Es zeigt ihnen, dass man jüdisch ist, auch wenn man kein religiöses Wissen hat. Und es hilft ihnen, offen mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Es funktioniert also ein bisschen wie eines dieser Aufklärungsbücher, in denen es um Sexualität geht.«
Ihre Kinderbücher sind unerwartet erfolgreich. Von schriftstellerischer Eitelkeit ist Linda Verö-Bán dennoch frei. »Judentum muss gelebt werden. Es ist nicht so, dass man liest und lernt und dann gläubig ist. Man muss es spüren, erleben. Das Wissen kann man sich später aneignen.«
Linda Verö-Báns Bücher sind in Deutschland in den Literaturhandlungen Berlin und München erhältlich oder online über www.hillel.hu