Hochschule

Forschung und Collagen

Die Frankfurterin Julia Bernstein ist sowohl Professorin als auch Künstlerin. Ein Porträt

von Gerhard Haase-Hindenberg  27.11.2023 09:38 Uhr

Julia Bernstein fragt danach, wie man auf Antisemitismus in WhatsApp-Gruppen reagieren soll. Foto: TR

Die Frankfurterin Julia Bernstein ist sowohl Professorin als auch Künstlerin. Ein Porträt

von Gerhard Haase-Hindenberg  27.11.2023 09:38 Uhr

Am 7. Oktober war die Frankfurter Professorin und Antisemitismusforscherin Julia Bernstein noch bei Freunden und Verwandten in Israel. Heute, Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas, nach ihren Gefühlen befragt, beschreibt die sonst so rationale Soziologin und Kulturanthropologin diese so: »Die Palette reicht vom Schock über Wut bis zu Trauer und Sorge über das, was viele jüdische Familien in Israel derzeit erleben. Vor allem mache ich mir auch Sorgen um die Geiseln, ihre Angehörigen und um die Soldaten.«

Bernstein blickt aber auch mit Sorge auf die Entwicklungen in Deutschland, die anti-israelischen Demonstrationen, den Vandalismus und den zunehmenden Antisemitismus. Es sei erschreckend, erklärt sie, wie der Terrorangriff auf Israel und die Gewalt gegen Juden gerechtfertigt würden, die antisemitische Vision von der Vernichtung des jüdischen Staates auf die Straße getragen würde und Juden in Deutschland einer sich verdichtenden Bedrohungskulisse ausgesetzt seien. Dies sei nicht neu, habe inzwischen aber eine andere Dimension angenommen.

Im Alter von 18 Jahren wanderte sie nach Israel aus

Geboren wurde Julia Bernstein in eine jüdische Familie in der Ukraine. Im Alter von 18 Jahren wanderte sie nach Israel aus und studierte in Haifa Soziologie, Kulturanthropologie und Kunst. Nach ihrem Masterabschluss begann sie eine Doktorarbeit über den Migrationsprozess russischsprachiger Juden nach Israel und Deutschland. »Auch wenn ich derzeit hier lebe«, sagt sie, »bin ich sprachlich, kulturell und religiös sehr mit Israel verbunden.«

Im Jahr 2002 kam sie im Rahmen der Recherche für ihre Dissertation nach Deutschland, um russischsprachige Juden zu befragen. Im Vordergrund stand einerseits die Frage nach der jüdischen Identität und andererseits, weshalb sie ausgerechnet das Ursprungsland der Schoa als Emigrationsort ausgewählt haben.

Parallel dazu besuchte sie einen Deutschkurs und verliebte sich sehr schnell in diese Sprache. Erst später verstand sie, dass Deutsch sie an das Jiddisch ihrer Großeltern erinnerte und die Liebe zur Sprache einen biografischen Aspekt hatte. Schließlich entschloss sich Julia Bernstein, die Promotion an der Goethe-Universität in Frankfurt fortzuführen. Dafür hatte sie in Lena Inowlocki eine sehr gute Betreuerin, die viele Jahre zum Thema Migrationsbiografien und Traumatradierungen nach der Schoa geforscht hat. Eine andere wichtige Professorin, mit der sie viel über die materielle Kultur als identitätsstiftende Komponente diskutierte, war die Kulturanthropologin Gisela Welz.

Ursprünglich hatte Julia Bernstein nie vor, nach ihrer Promotion in Deutschland zu leben. Schließlich hatte sie davor bereits sechs Jahre als Dozentin an Hochschulen in Israel gearbeitet. Dann aber erhielt sie Lehraufträge von mehreren Hochschulen und war fünf Jahre an der Kölner Uni im Lehramtsstudium beschäftigt.

Im Jahr 2014 wurde sie Professorin an der University of Applied Sciences in Frankfurt

»Dort machte ich interessante Erfahrungen in interkultureller Pädagogik«, sagt sie, »was für die Sensibilisierung der angehenden Lehrkräfte sehr wichtig war.« Im Jahr 2014 wurde sie dann Professorin an der University of Applied Sciences in Frankfurt. Sie spezialisierte sich auf das Thema Antisemitismus und die Auswirkungen der Schoa auf die heutige Gesellschaft, aber auch auf Themen wie Migrationsfragen und Rassismus.

Als Mitglied einer Arbeitsgruppe der Kultusministerkonferenz ist sie an der Erarbeitung von Vorschlägen und Empfehlungen zum Thema Antisemitismus für den schulischen Bereich beteiligt. Immer wieder wird sie auf unterschiedliche Weise mit Fragen konfrontiert: Wie kann man Schüler sensibilisieren, wie die Probleme eines israelbezogenen Antisemitismus pädagogisch angehen? Wie kann und muss man auf Antisemitismus reagieren, der derzeit in Klassenräumen und WhatsApp-Gruppen sichtbar wird?

Derzeit arbeitet sie an Empfehlungen für Schulen zum Thema Antisemitismus.

Solche und andere Fragen greift Julia Bernstein auch in ihren Seminaren an der Hochschule auf. Diese Seminare sind keine Pflichtveranstaltungen, deshalb komme es da zum Glück kaum zu Provokationen, sagt sie. Diese Lehrveranstaltungen besuchen vor allem angehende Sozialarbeiter, die Interesse daran haben, sich kritisch mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, mehr über die Auswirkungen der Schoa in Deutschland zu lernen und sich mit jüdischen Perspektiven und Erfahrungen zu beschäftigen.

In einem der aktuellen Seminare geht es darum, mit Juden der zweiten, dritten und mittlerweile vierten Generation Interviews zu führen. Danach analysieren sie die Lebensgeschichten in Bezug auf Antisemitismuserfahrungen, die Schoa und die Auswirkungen von Traumata. Thema sind auch die eigenen Erfahrungen der Studierenden.

Also: Was wurde in ihren Familien über die Schoa erzählt, wie sprachen die Großeltern darüber, und was ergeben sich daraus für Wahrnehmungsmuster, die die Studierenden prägen? Im nächsten Schritt wird dann auf Erscheinungsformen des Antisemitismus geschaut sowie auf die strafrechtlichen Möglichkeiten nach antisemitischen Vorfällen heute und auch, wie das für sie später als Sozialarbeiter einmal relevant sein könnte.

Forschungsergebnisse zum israelbezogenen Antisemitismus

Forschungsergebnisse zum israelbezogenen Antisemitismus lägen seit vielen Jahren vor, sagt Julia Bernstein: »Da liest man zum Beispiel davon, wie Israel dämonisiert und damit Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Israel und Deutschland gerechtfertigt wird. Das Neue aber ist, dass die Akteure, die das unmittelbar betrifft, also die verschiedenen Organisationen und Lehrkräfte, sich dem jetzt stellen müssen.«

Man müsse bei der Thematisierung des Nahostkonflikts Antisemitismus als integralen Bestand zur Sprache bringen und die (lebens-)gefährliche Wirkung auf jüdische Akteure mitbedenken, sagt Bernstein. »Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, an dem man dieses Problem benennen und dringend zu erkennen lernen muss. Das hat in der Vergangenheit kaum stattgefunden, und darüber haben sich jüdische Betroffene zu Recht beschwert – nämlich, dass sie sich allein und nicht ausreichend geschützt gefühlt haben«, erläutert die Wissenschaftlerin.

»So wird die israelische Flagge oder schon das Tragen des Davidsterns als Provokation ausgelegt, was gelegentlich körperliche Gewalt zur Folge hat. In der Vergangenheit wurde das vonseiten der Schule oft bagatellisiert, und nicht selten wurde jüdischen Schülern eine Mitschuld an der Aggression der anderen Seite unterstellt.«

Inzwischen habe die Gewalt ein Ausmaß erreicht, dass man das Problem endlich aktiv angehen müsse. »Das jüdische Leben in Deutschland war nach dem Holocaust noch nie so gefährdet. Der Krieg in Israel sowie die Bedrohung von Juden weltweit erlauben momentan keinen Alltag.«

Die Kulturanthropologin ist mittlerweile auch eine arrivierte Künstlerin.

Bernstein sagt, dass sie in diesem Zusammenhang wegen so mancher zögerlicher oder »Ja-aber-Haltung« enttäuscht sei. Aber angesichts konkreter Sympathiebekundungen für die Hamas oder propalästinensischer Rufe mit Vernichtungscharakter für Israel und Juden ganz allgemein erreichten sie andererseits auch die entsprechenden Anfragen.

Neben all diesen Tätigkeiten ist Julia Bernstein mittlerweile auch eine arrivierte Künstlerin. Ihre Bilder hängen unter anderem in den Jüdischen Museen in Berlin und München. Darüber hinaus hatte sie viele Ausstellungen sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Eine dieser Ausstellungen hieß »Migrationscollagen«. Sie thematisiert russischsprachiges jüdisches Leben in Deutschland. In ihren Collagen verbindet die Künstlerin zum Beispiel Packpapier aus russischen Geschäften mit Tagebucheinträgen und Ausschnitten aus Interviews mit russischsprachigen jüdischen Zuwanderern.

Sie verfolge damit das Ziel, »durch Kunst und Wissenschaft eine alternative Bühne zu kreieren, welche die Menschen sowohl kognitiv als auch emotional erreicht«. Denn eine Beziehungs- und Biografiearbeit, die Emotionen einbezieht, betont sie, halte sie pädagogisch für besonders effektiv.

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