Tagebuch

Formlos glücklich

»Was ich bin, wenn ich nicht schreibe: nichts und niemand«: Imre Kertész Foto: dpa

Geplant war ein vielschichtiger Roman mit mehreren Handlungsebenen über eine Kunstfigur. Entstanden ist eine Zusammenstellung von Tagebucheinträgen vom 1. Januar 2001 bis 29. Juli 2009. Aufzeichnungen eines Mannes, der gegen eine unerbittlich fortschreitende Krankheit (Parkinson), den zunehmenden Verfall seiner Kräfte und gegen die ihn bedrückenden Zustände seiner ungarischen Heimat anschreibt, während er sich um die Herstellung eines literarischen Kunstwerks bemüht, dessen Fragment in der Mitte des Buches platziert ist.

Persönliche Erlebnisse, tagespolitische Analysen, existenzielle Überlegungen wechseln sich in kaleidoskopischer Vielfalt mit grimmigen Beobachtungen und witzigen Aperçus ab, zusammengehalten durch die literarische Gestaltungskraft und starke Persönlichkeit ihres Autors.

James bond Die schwierige Beziehung zum bewunderten Komponisten György Ligeti, seine warme Freundschaft zum Pianisten András Schiff, die schönen Abende mit den Barenboims, bei denen der Dirigent ein Libretto von ihm fordert, sehr offene Einschätzungen anderer Autoren und Schriftsteller, sogar eine Kritik des James-Bond-Films Goldfinger, den Kertész, als einer, der den größten Teil seines Leben hinter dem Eisernen Vorhang zugebracht hat, nun im Januar 2002 zum ersten Mal im Fernsehen sieht: »Ein unglaublicher dummer Film. (…) und als ich den Kopf am heftigsten schüttelte, wurde mir auf einmal klar, dass der Film, den ich sehe, wahr ist. Ist nicht eben das am 11. September vergangenen Jahres geschehen, hat diese Bin Laden genannte Märchenfigur ihre Ideen nicht aus solchen schwachsinnigen amerikanischen Drehbüchern geschöpft (…)?«

Es ist das Fehlen jeglichen Selbstmitleids, die Lebensfreude, die Kertész’ Notizen, des düsteren Gegenstands und vorhersehbaren Ausgangs zum Trotz, so lesenswert machen. Die guten Restaurants, die er gerne besucht, die Reisen, die er, auch wenn sie ihn anstrengen, nach langen Jahren des Eingesperrtseins stets aufs Neue genießt. »So muss man leben – wenn ein Freund ein Konzert in Salzburg gibt, setzt man sich in den Zug und fährt hin.«

In ihrer Unerbittlichkeit erschreckende Selbstbeobachtungen: »Wer liebt mich? (Außer mir selbst?) Ich glaube, niemand. Ich bin auch nicht liebenswert. Letzten Endes will ich auch nicht, dass man mich liebt, ich begnüge mich auch mit Bewunderung.« Die Vorzüge und Schattenseiten eines Daseins als Nobelpreisträger: »Wenn ich noch lange lebe, werde ich am Ende noch zur Kultfigur, obwohl ich nicht zum Segenspenden unter die Menschen gegangen bin, sondern um ihnen von meinen Erfahrungen zu berichten.« Der zunehmende körperliche Kontrollverlust, der sein existenzielles Selbstverständnis infrage stellt: »Was ich bin, wenn ich nicht schreibe: nichts und niemand.«

heimat Das komplizierte Verhältnis zu Ungarn, wo er sich ebenso ausgestoßen fühlt wie seinerzeit Béla Bartók: »Er nährt sich aus ungarischen Wurzeln und bleibt in Ungarn ein Fremder. (…) Ich will damit nur sagen, dass hier jeder heimatlos ist, der zeitgemäße Wahrheiten in einer zeitgemäßen Sprache anbietet.« Ungarn – wo man ihn im Sozialismus kaum wahrnehmen wollte, um ihn, mit zunehmender Bekanntheit, im Sinne der neu erworbenen Meinungsfreiheit heftig und gemein zu beschimpfen. »Sie hassen dich, weil du Jude bist, sie hassen dich, weil du glücklich bist, sie hassen dich, weil du anderswo geschätzt wirst – sie hassen dich, weil du existierst.«

Die eigene Position in der internationalen Literatur beschreiend, rechnet sich Kertész in der Nachfolge Kafkas und Celans der »in Osteuropa in Erscheinung getretenen jüdischen Literatur (zu), die (…) hauptsächlich auf Deutsch, aber nie in der Sprache der jeweiligen nationalen Umgebung geschrieben wurde.« Was ihn nicht daran hindert, sich eingehend mit den Eigenheiten und Vorzügen seines eigentlichen literarischen Instruments, der ungarischen Sprache, auseinanderzusetzen.

Den Antisemitismus, der im Programm der schon damals drittstärksten politischen Kraft (MIÉP) Ungarns seinen Niederschlag findet: »Was ist Antisemitismus? Das in Mord ausartende Gaudi schmutziger Seelen.« Schlussfolgerung: »Die europäischen Juden begehen meines Erachtens einen selbstmörderischen Fehler, wenn sie in das Geheul von europäischen Intellektuellen und Chefbeamten einstimmen, die sie gestern noch ausrotten wollten und jetzt unter dem Vorwand der Kritik an Israel eine neue Sprache für den alten Antisemitismus finden; wieso sollten sich ihre Absichten denn geändert haben.«

Immer präzise, stets nuanciert, um die Zwischentöne bemüht, die durch den Abdruck einiger weniger Schlagworte oder Interviewäußerungen gern verwischt werden, ist die Letzte Einkehr, gerade in ihrer von Kertész selbst bemängelten »Stillosigkeit«, ein sehr lesenswertes Buch. Als Ausdruck einer selbst durch den Ausblick auf das eigene Ende nicht zu brechenden Lebensbejahung, die, auch wenn Kertész Generalisierungen entschieden ablehnt – »›Jude‹ ist nur für den Antisemiten eine eindeutige Kategorie« –, in ihrem Witz wie in ihrem Scharfsinn, in ihrer Trauer wie in ihrer Selbstbezogenheit und Selbstironie, als zutiefst jüdisch zu bezeichnen ist.

Imre Kertész: »Letzte Einkehr. Tagebücher 2001–2009«. Deutsch von Kristin Schwamm. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013, 464 Seiten, 24,95 €

TV-Spielfilm

ARD dreht prominent besetztes Dokudrama zu Nürnberger Prozessen

Nazi-Kriegsverbrecher und Holocaust-Überlebende in einem weltbewegenden Prozess: Zum 80. Jahrestag dreht die ARD ein Drama über die Nürnberger Prozesse - aus der Sicht zweier junger Überlebender

 31.03.2025

Porträt

»Das war spitze!«

Hans Rosenthal hat in einem Versteck in Berlin den Holocaust überlebt. Später war er einer der wichtigsten Entertainer Westdeutschlands. Zum 100. Geburtstag zeigt ein ZDF-Spielfilm seine beiden Leben

von Christof Bock  31.03.2025

Interview

Günther Jauch: »Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit«

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Jubiläum

Immer auf dem Sprung

Der Mann flitzte förmlich zu schmissigen Big-Band-Klängen auf die Bühne. »Tempo ist unsere Devise«, so Hans Rosenthal bei der Premiere von »Dalli Dalli«. Das TV-Ratespiel bleibt nicht sein einziges Vermächtnis

von Joachim Heinz  31.03.2025

Todestag

Wenn Worte überleben - Vor 80 Jahren starb Anne Frank

Gesicht der Schoa, berühmteste Tagebuch-Schreiberin der Welt und zugleich eine Teenagerin mit alterstypischen Sorgen: Die Geschichte der Anne Frank geht noch heute Menschen weltweit unter die Haut

von Michael Grau, Michaela Hütig  31.03.2025

München

Schau zu »Holocaust im familiären Gedächtnis« im Jüdischen Museum

Die Zeitzeugen des Holocaust sterben nach und nach weg. Auch für deren Angehörige heißt das, sich zu fragen, wie man mit der eigenen Familiengeschichte weiter umgehen soll. Eine Münchner Schau nimmt sich des Themas an

 31.03.2025

Las Vegas

Kiss tritt ungeschminkt auf

Schon 2023 schwor Gene Simmons, dass die Band diesen Schritt wagen werde. In Las Vegas will er Wort halten

 31.03.2025

Gert Rosenthal

»Mein Vater war sehr bodenständig«

Am 2. April wäre Hans Rosenthal 100 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum würdigt ihn das ZDF. Ein Gespräch mit seinem Sohn Gert über öffentliche und private Seiten des Quizmasters

von Katrin Richter  31.03.2025 Aktualisiert

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  31.03.2025