Ein neunjähriges jüdisches Mädchen lebt ein wunderbares Leben mit ihrer wunderbaren Familie im wunderbaren Berliner Grunewald. Dann gewinnt Hitler die Wahl, und das behütete Kind wird zum Flüchtling, während um es herum Europa in Schutt und Asche versinkt.
Das ist der deutsche »Weihnachtsfilm« im Jahr 2019 – zumindest wird er so vom Verleih beworben. Mal abgesehen von dieser befremdlichen Werbung, über die sich die Autorin dieser Zeilen ganz sicher noch den Rest des Jahres den Kopf zerbrechen wird, ist die Neuverfilmung von Judith Kerrs Kinderbuchklassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl durch Oscar-Preisträgerin Caroline Link allerdings so gut gelungen, dass man ganz ungläubig in die Realität zurückrutscht, wenn plötzlich der Abspann läuft. Zu gern wäre man dabei geblieben, wenn Anna, so der Name der jungen Heldin, im britischen Exil ein neues Leben beginnt mit der ihr eigenen herzlichen Tatkraft und dem entschlossenen Blick nach vorn.
Klassiker Falls es doch noch Menschen geben sollte, die das Buch nicht kennen: Judith Kerr, Tochter des legendären, streitlustigen Theaterkritikers Alfred Kerr – gewissermaßen der Marcel Reich-Ranicki der Weimarer Republik –, hat mit Vater, Mutter und Bruder die Schoa überlebt, weil sie 1933 schnell genug aus Deutschland in die Schweiz geflohen sind, von dort aus bald Frankreich erreichten, das sie wiederum rechtzeitig vor Kriegsausbruch in Richtung London verließen, wo sich die Kerrs dann in einem neuen Leben einrichten mussten.
Als Judith Kerr schon ihre eigene Familie hatte, so die Legende, sah ihr Sohn eines Tages das Musical The Sound of Music im Kino und verkündete daraufhin, dass er nun endlich wisse, wie es seiner Mutter im Krieg ergangen sei. Also schrieb Kerr ein Kinderbuch, um ihren Sohn und alle anderen Kinder darüber aufzuklären, wie es sich tatsächlich anfühlte, sein Zuhause, seine Freunde, sein bisheriges Leben von einem Tag auf den nächsten zu verlieren, nur weil man Jude ist.
ENGLAND Der Titel des Buches geht auf das Stofftier zurück, das die Heldin im Koffer in Berlin-Grunewald zurückließ, im festen Glauben daran, sowieso ganz bald wieder nach Hause zu kommen. Doch dann raubten die Nazis den gesamten Hausstand der Familie und nannten es Konfiskation. Das gestohlene Kaninchen wurde zum Sinnbild für die Auslöschung der Spuren des erfüllten, normalen Lebens einer ganzen Familie.
Wie schon in ihren Erfolgsfilmen Jenseits der Stille, Nirgendwo in Afrika oder Der Junge muss an die frische Luft erzählt Regisseurin Link auch diesmal mit dem Blick aus Kinderaugen und dem Gefühl aus Kinderherzen, was meist so viel präziser und weniger zurechtgebogen ist als bei Erwachsenen.
Kulturen Anna berichtet mal lakonisch, mal optimistisch, mal verstört von den vielen Stationen in ihrem jungen Leben, den Eltern, die den Kindern selbst auf der Flucht ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, von Onkel Julius, der trotz besserem Wissen in den sicheren Tod nach Deutschland zurückkehrt, von mal mehr, mal weniger offenem Antisemitismus, vom Arrangieren mit neuen Orten, Menschen und Kulturen, weil es die Lebenssituation eben erfordert.
Einfühlsam, bewegend und mit viel Herz erzählt der Film von Judith Kerrs Kindheit.
Die Darstellerin der Anna, Newcomerin Riva Krymalowski, ist so beeindruckend wie eigentlich der gesamte Cast mit Oliver Masucci (Dark, 4 Blocks) als Vater und Carla Juri (Feuchtgebiete) als Mutter Kerr. Der Ton und die Nuancen stimmen, wenn der vormals angesehene Berliner Kritiker mit dem neuen Leben als Bittsteller kämpft, wenn die Mutter, die gerade noch am eigenen Flügel an einer großen Komposition gearbeitet hat, sich, zumindest äußerlich, mit der Armut arrangiert, und wenn Anna und ihr Bruder den Ernst des ihnen gebotenen Spiels sehr wohl begreifen, es aber trotzdem nicht ganz aufgeben.
GLÜCK Judith Kerr hat immer betont, dass sie zu den Glücklichen gehört hat, denen damals nichts passiert ist – und dass dieser Umstand ihrer Überzeugung nach mit einer großen Verantwortung einherging. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagte sie einmal: »Die Nazis haben sechs Millionen Juden getötet, und ausgerechnet unsere Familie hatte das Glück zu überleben. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Man weiß, dass man ein Leben hat, das anderen nicht gegeben wurde. Ich denke, deshalb war es richtig, die Erinnerungen an diese Zeit und ihre Menschen wenigstens literarisch am Leben zu erhalten.« Trotz allem trug ihr Vater Alfred Kerr dem jungen Mädchen im britischen Exil auf, stets glücklich zu sein. »Er hat mir und meinem Bruder immer wieder befohlen, das Leben anzunehmen. Du musst glücklich sein, schrieb er auch in einem seiner letzten Briefe.«
So hat auch Charlotte Links Film etwas gebrochen Heiles, Traumhaftes, wenn diese eine Familie ihren Weg in die Sicherheit findet, während man im Kopf die Bilder des realen Grauens der Zurückgebliebenen ergänzt. Dass der Weg natürlich bedrohlicher und schmerzhafter war, als die Erwachsenen es die Kinder wissen lassen wollten, das hat Judith Kerr in ihrer Autobiografie Geschöpfe aufgeschrieben, die 2018 in der Edition Memoria erschienen ist.
Judith Kerr wusste von dem Film, starb aber, im Mai dieses Jahres, bevor sie das fertige Werk sehen konnte. Einfühlsam, bewegend und mit viel Herz erzählt Regisseurin Link von Judith Kerrs Kindheit, getragen von atmosphärisch dichten Bildern. Den überstürzten Aufbruch der Familie ins ungewisse Exil inszeniert sie als Abenteuer, wenngleich mit ernstem Unterton. Sie zeigt, wie die Familie Judenhass und Ablehnung von Andersdenkenden erst unterschwellig, später ganz offen zu spüren bekommt – ein bedrückendes Gefühl. Packend an Links Film ist auch die Vielschichtigkeit, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen in ihren Bann zieht – ein Phänomen, das auch auf die Buchvorlage zutrifft. Ein größeres Lob für die Verfilmung könnte es nicht geben.
Ab 25. Dezember im Kino