Wenn Juden jedes Jahr im Monat Nissan an den Auszug aus Ägypten erinnern, sollen sie sich so fühlen, als ob sie selbst den Exodus erlebt hätten. Bei vielen Juden hat es dazu auch in den letzten Generationen nicht allzu vieler Vorstellungskraft bedurft. Juden befinden sich auch weiterhin auf – oftmals unfreiwilliger – Wanderschaft. Vor 25 Jahren flüchteten zahlreiche Juden aus der auseinanderbrechenden Sowjetunion, vor über 50 Jahren verließen die meisten der noch im Lande verbliebenen Juden Polen, und die deutsch-jüdische Emigration in alle Kontinente war noch vor 80 Jahren in vollem Gange.
Doch wohl niemand konnte sich so gut mit dem Text der Haggada identifizieren wie die ägyptischen Juden, die in den 50er-Jahren vor dem damaligen Pharao namens Nasser die Flucht ergriffen. Sie konnten auf eine jahrtausendelange Geschichte zurückblicken. In der Stadt Elephantine etwa hatten ihre Vorfahren noch zu biblischen Zeiten einen Tempel erbaut, und in Fustat (Alt-Kairo) wirkte Maimonides, der bedeutendste jüdische Denker des Mittelalters.
Die Juden Ägyptens waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ gut integriert. Sie trugen entscheidend zur Entwicklung des frühen ägyptischen Films bei, und auch im Bereich der Musik gab es prominente jüdische Namen. Die bedeutendste Sängerin Ägyptens am Vorabend von Gamal Abdel Nassers Herrschaft war die zum Islam konvertierte Tochter eines irakischen Juden und einer polnischen Jüdin, Leila Mourad. Die antijüdische Stimmung nahm mit der Gründung Israels zu, entlud sich aber insbesondere, nachdem Nasser 1954 an die Macht kam. Leila Mourad, die noch 1953 zur offiziellen Sängerin der ägyptischen Revolution erklärt wurde, musste ihre Kariere kurz darauf beenden.
irak Die Juden Ägyptens waren nur eine von vielen jüdischen Gemeinden der arabischen Welt, die in den Jahren nach Gründung des Staates Israel aus ihrer Heimat verwiesen wurden. Es ist heute in Vergessenheit geraten, dass hier Ende der 40er-Jahre und teilweise noch darüber hinaus bedeutende jüdische Gemeinden bestanden, die oftmals stärker in die Kultur und Politik ihrer jeweiligen Länder eingebunden waren als einst die Einwanderer aus Polen, Rumänien oder Bulgarien.
Nirgends traf dies mehr zu als im Irak. In Bagdad war Anfang 1950 noch jeder vierte Einwohner jüdisch. Bagdad war damals eine jüdische Stadt, wie New York es heute ist. Jüdische Sänger wie Salima Mourad und Nazem al-Ghazali gehörten zu den populärsten Musikern des Landes. Von einer Ausnahme abgesehen, waren alle Musiker, die Irak bei dem ersten Arabischen Musikfestival in Kairo 1932 vertraten, Juden, und das irakische Radio war von Juden begründet worden.
Doch die vehemente Ablehnung des Staates Israel durch den arabischen Nationalismus, Maßnahmen gegen die zionistische Führung im Irak in einer Verhaftungswelle im Oktober 1949 und die Identifizierung aller Juden mit dem feindlichen Staat führte zu gewalttätigen Ausschreitungen und staatlichen Maßnahmen gegen die jüdischen Gemeinden in arabischen Ländern. Der Irak erlaubte im März 1950 die Emigration seiner jüdischen Bevölkerung. Bis Ende 1951 waren über 90 Prozent der 115.000 irakischen Juden nach Israel ausgewandert, ihr Besitz weitgehend konfisziert worden. Nur etwa 6000 Juden blieben vorübergehend noch im Irak.
syrien Wie traumatisch die unfreiwillige Auswanderung nach Israel war, schildert der Schriftsteller Eli Amir bewegend in seinem Roman Der Taubenzüchter von Bagdad. Er erinnert sich darin der vielfältigen Gerüche im Basar von Bagdad, der raffinierten Küche der irakischen Juden und ihrer mannigfaltigen Beziehungen zur muslimischen Umwelt. Wie seine Familie, so stammten die meisten der irakischen Juden aus den bürgerlichen Mittelschichten, waren oft begüterter und besser ausgebildet als die Einwanderer aus Osteuropa, wurden von diesen in Israel aber von oben herab als »Orientalen« betrachtet. Sie wurden in Baracken oder Zeltsiedlungen untergebracht und mit Nahrung versorgt, die für sie ungenießbar erschien.
Auch die syrischen Juden hatten nach dem Beginn von Pogromen im Jahr 1947 sehr bald ihre Heimat verlassen. Etwa zwei Drittel von ihnen flüchteten aus den jüdischen Vierteln von Damaskus und Aleppo, wo nun palästinensische Flüchtlinge untergebracht wurden. Eine Reihe antijüdischer Gesetze sowie Prozesse gegen Angehörige von Auswanderern nach Israel verschärften die Situation weiter. Das einzige arabische Land, in dem die Zahl der Juden nach 1948 vorläufig zunahm, war der Libanon, dessen kleine jüdische Gemeinde durch jüdische Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak auf etwa 9000 anwuchs, bis nach Ausbruch des ersten Bürgerkriegs 1958 auch von hier aus die Abwanderung nach Israel einsetzte.
Marokko Kurz nach der Staatsgründung Israels entlud sich in den marokkanischen Städten Jérada and Oujda die antijüdische Gewalt. 43 Juden wurden getötet. Die Emigration marokkanischer Juden nahm daraufhin zu, doch die Mehrzahl blieb vorerst im Lande, zum einen, da in Israel älteren, kranken und armen Emigranten manche Hürden in den Weg gelegt wurden, zum anderen, weil nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 die offizielle Politik des Landes keineswegs judenfeindlich war.
Eine führende jüdische Persönlichkeit, Leon Ben Saken, wurde Minister im ersten marokkanischen Kabinett, und auch andere Juden erhielten wichtige Positionen in der Verwaltung und im Rechtssystem. Als unter dem Druck anderer arabischer Staaten jedoch die Immigration nach Israel für illegal erklärt wurde, verschlechterte sich die Situation: Etwa 25.000 Juden wanderten zwischen 1956 und 1961 illegal nach Israel aus, und als die Auswanderung 1961 legalisiert wurde, folgten in den nächsten drei Jahren weitere 90.000. Damit hatte auch der Großteil der marokkanischen Juden seine neue Heimat in Israel gefunden.
jemen In einer spektakulären Luftbrückenaktion wurden 1949/50 etwa 49.000 Juden aus dem Jemen nach Israel gebracht. Sie waren am wenigsten mit der westlichen Welt vertraut, weigerten sich zunächst, in die unheimlichen Flugmaschinen zu steigen, und fanden die junge israelische Gesellschaft viel zu säkular. Umgekehrt hielten manche israelische Politiker die jemenitischen Juden für unfähig, ihre Kinder im Sinne der Staatsideologie zu erziehen. So kam es zu tragischen Fällen, in denen Neugeborene ihren jemenitischen Müttern weggenommen und in aschkenasische Familien oder staatliche Einrichtungen gegeben wurden.
Die Auswanderer, denen sich Alternativen boten, wählten oft andere Ziele. Die 135.000 algerischen Juden kamen größtenteils nach Frankreich, ebenso wie die meisten Juden Tunesiens, während ein Teil der libyschen Juden nach Italien ging.
Pessach wird heute in der islamischen Welt kaum mehr gefeiert. Nur ein paar kleinere Gemeinden bestehen noch in der Türkei, in Marokko und Tunesien. Im Land, aus dem Moses einstmals die Juden herausführte, gibt es zwar noch ein paar prächtige Synagogen, doch ein Minjan kommt nicht mehr zustande.