Keuchend schleppt sich Petrow durch den überfüllten Bus. Es ist Winter, die Scheiben des klapprigen alten Gefährts sind beschlagen. Die graue, gesichtslose Großstadt, die draußen vorbeizieht, lässt sich nur erahnen. Einer der verwahrlost wirkenden Passagiere fabuliert von den guten alten Zeiten. Früher, in der Sowjetunion, sei es noch um den Menschen gegangen. Aber heute? »Überall Tadschiken und Juden – die haben bei uns das Sagen!« Sein Nebenmann pflichtet ihm bei: »Man muss alle, die an der Macht sind, an die Wand stellen!«
Petrow hat sich mittlerweile bis zum Ausgang durchgekämpft, als der Bus plötzlich quietschend zum Halt kommt. Die Tür öffnet sich, draußen steht ein Mann, der eine knallrosa Wrestling-Maske trägt. Er reicht Petrow eine Kalaschnikow und zieht ihn mit sich. Einige Meter weiter herrscht Anarchie: Wohlhabend aussehende Menschen in Anzügen und Gala-Kleidern werden von bewaffneten Männern brutal abgeführt und buchstäblich vor eine Wand gestellt. Das Erschießungskommando hebt an – und feuert.
skurril Wunschtraum, Albtraum, Fiebertraum: In Kirill Serebrennikows fulminantem Meisterwerk Petrow hat Fieber (Petrov’s Flu) ist das alles nah beieinander. Immer wieder ist es schwer zu entscheiden, was der Grippe des Protagonisten entspringt oder einfach der absurden Realität, in der er lebt, geschuldet ist. Die Entführung einer Leiche, eine Bibliothekarin mit Superkräften, der Besuch von Außerirdischen – an skurrilen Begebenheiten mangelt es dem 145 Minuten langen Film durchaus nicht.
Durch all das stolpert der fiebernde Petrow, ein Automechaniker, der Aspirationen zum Comic-Zeichner hat, ein Familienvater mit homosexuellen Affären. Mal verhilft er einem erfolglosen Literaten zum Selbstmord oder findet sich in einem wirren Gespräch mit einem Verschwörungstheoretiker wieder, um im nächsten Moment Erinnerungen aus seiner Kindheit der Breschnew-Zeit erneut zu durchleben. Alles hängt miteinander zusammen, nichts macht so richtig Sinn.
So komisch viele der Ereignisse und Dialoge sein mögen und so empathisch einige der Figuren gezeichnet sind, Serebrennikow zeigt in Petrow hat Fieber ein erschütterndes Bild seiner russischen Heimat: Zynismus, Vulgarität, Antisemitismus und allgegenwärtige Gewalt – sogar ein Treffen des Literatenzirkels endet in einer Schlägerei über den Streit um die angemessene Länge von Gedichten. In dem Film ist es meistens dunkel, die Farben sind ausgeblichen, die Gesichter der Menschen verbraucht.
Der Regisseur kennt die Realität, die er auf die Leinwand bringt, zur Genüge.
Der Regisseur kennt die Realität, die er auf die Leinwand bringt, zur Genüge: Vor allem für seine avantgardistischen Inszenierungen am Moskauer Gogol Center bekannt, geriet Serebrennikow, der einen jüdischen Vater hat, schnell ins Fadenkreuz der russischen Behörden.
HAUSARREST Sein Nonkonformismus war den Herrschenden in Russland offenbar ein Dorn im Auge: Nach wahrscheinlich fingierten Vorwürfen wegen Veruntreuung wurde Serebrennikow jahrelang unter Hausarrest gestellt, bevor er 2020 zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. In dieser Zeit gelang es dem Regisseur dennoch, zahlreiche Inszenierungen an Bühnen in ganz Europa umzusetzen. Für die Proben war er häufig aus dem Hausarrest online zugeschaltet.
Die Dreharbeiten an Petrow hat Fieber, der auf einem Roman von Alexei Salnikow beruht, begannen, während Serebrennikow vor Gericht stand. Schließlich konnte er Russland kurz vor Beginn des Ukraine-Krieges verlassen und lebt heute in Berlin.
Viel Hoffnung auf eine befriedete russische Gesellschaft gibt er mit Petrow hat Fieber nicht. Irgendwann bekommt der aus dem letzten Loch pfeifende Protagonist eine Aspirin von einem wohlwollenden Wahnsinnigen zugesteckt. Die Tablette ist aus den 70er-Jahren, der guten alten Zeit also. Doch ob ein 50 Jahre altes Medikament immer noch Fieber senken kann? Fraglich.
Der Film läuft ab dem 26. Januar in den Kinos.