Sammelband

Fenster in die Zukunft

Heute wissen, was morgen sein wird – ein Traum seit altersher. Das Fenster zum Blick nach vorn, ob auf das Paradies auf Erden oder apokalyptische Zustände, jedenfalls auf mehr Wissen und Erkenntnis, ist seit mehr als 25 Jahren durch die sogenannte »Edge«-Frage, die der 77-jährige Visionär John Brockman aus Boston gelegentlich stellt, geöffnet.

Der Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer richtet an führende Wissenschaftler vor allem aus den USA die Frage: »Was halten Sie für die interessanteste wissenschaftliche Neuigkeit unserer Zeit? Was macht die Bedeutung dieser Neuigkeit aus?« Knapp 200 Antworten sind 2017 bei Brockman eingegangen. Jetzt liegt die deutsche Übersetzung in einer erschwinglichen Ta­schenbuch-Erstausgabe vor. Science-Fiction ist langweilig gegenüber diesem Tour d’Horizon über die Wissenschaft.

Die aufregende Lektüre der bis zu drei oder vier Seiten umfassenden Antworten muss nicht der Anordnung des Buches folgen. Wer zufällig eine Seite aufschlägt, landet immer intellektuelle Volltreffer. Die Details versteht manchmal nur der Spezialist. Aber der an Wissenschaft Interessierte wird in jedem der Beiträge nicht nur auf den Kern zukünftiger Erkenntnis oder Erfindung stoßen, sondern deren Bedeutung andeutungsweise ermessen können.

Teilchen Der theoretische Physiker Sean Carroll vom Caltech schreibt beispielsweise: »Wir kennen alle Teilchen seit der Entdeckung des Higgs-Bosons. Sie ist eine der größten Errungenschaften des menschlichen Geistes. Herauszufinden, wie diese einfachen Bausteine zusammenwirken und unsere komplexe Welt hervorbringen, ist eine Aufgabe, an der noch viele Generationen arbeiten werden.«

Oder: Der Begründer der evolutionären Psychologie, John Tooby aus Santa Barbara, beschreibt den andauernden »Wettlauf zwischen genetischer Kernschmelze und gentechnischen Eingriffen in die Keimbahn«. Der Kognitionswissenschaftler Joshua Bach vom MIT behauptet: »Alles ist Rechnen. Rechnen ist etwas anderes als Mathematik. Immer mehr Physiker erkennen, dass unser Universum nicht mathematischen, sondern rechnerischen Charakters ist und die Physik die Aufgabe hat, einen Algorithmus zu finden, der unsere Beobachtungen zu reproduzieren vermag.« In eine ähnliche Kerbe schlägt der Physiker Alexander Wissner-Gross, ebenfalls vom MIT: »Datensätze sind wichtiger als Algorithmen!«

Ökosystem Die Anthropologin Nina Jablonski von der Penn State University fasst ihren Beitrag so zusammen: »Lassen Sie uns unseren Körper nicht länger als Tempel aus Sehnen und einem Gehirn begreifen, sondern als sich weiterentwickelndes Ökosystem voller Bakterien, die unsere Gesundheit auf sehr viel mehr Arten und Weisen steuern, als wir uns je vorstellen können.«

Der Sozialpsychologe Richard Nisbett aus Michigan beschreibt die Desillusionierung und Unzufriedenheit armer weißer Amerikaner (eine Ursache des nicht verstandenen Trump-Erfolgs). Er fordert: »Die Wissenschaft muss noch mit überzeugenden Theorien aufwarten, die aufzeigen, wie das Schicksal armer Weißer am unteren Ende der sozialen Leiter verbessert werden kann.«

KI Die Philosophin Rebecca Newberger Goldstein aus New York schreibt über »Genderisierung der Genialität«. Sie hält die Unterschätzung des kreativen Potenzials der weiblichen Hälfte der Bevölkerung für so wichtig, dass ihre Überwindung einen großen Segen für die Menschheit bringen würde. Manche Beiträge desillusionieren die Propheten der Künstlichen Intelligenz, indem sie die Geschwindigkeit der Fortschritte im Bereich der KI auf mehrere menschliche Lebensspannen reduzieren.

Ein anderes wichtiges Thema behandelt der Evolutionsforscher Michael McCullough, der unter dem Titel »Die religiöse Moral schlägt meist unter der Gürtellinie zu« das Phänomen beschreibt, dass religiöser Eifer und Fanatismus sich meist an Fragen der Sexualität entzünden, »mit dem netten kleinen Extra, Gott auf seiner Seit zu wähnen«.

Mathematik und Informatik, Umweltschutz und Wirtschaftswissenschaft, Astronomie und Mikrobiologie – fast 200 Beiträge renommierter Wissenschaftler geben einen durchaus auch unterhaltsamen Vorgeschmack auf morgen, der nicht immer bitter, aber auch nicht nur angenehm ist. Ein sehr interessantes Buch, das aufzeigt, wie entscheidend Wissenschaft die Welt von gestern und heute in eine von morgen verwandeln wird.

John Brockman (Hg.): »Neuigkeiten von morgen. Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über die wichtigsten Ideen, Entdeckungen und Erfindungen der Zukunft«. Fischer, Frankfurt/M. 2018, 635 S., 15 €

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  23.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  23.04.2025

27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Der »Berufsverbrecher« Otto Küsel rettete Hunderten das Leben. In Polen ist er ein Held, in Deutschland fast unbekannt. Das will Sebastian Christ mit einem Buch ändern, für das er 20 Jahre lang recherchiert hat

 23.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 23.04.2025

Fernsehen

Ungeschminkte Innenansichten in den NS-Alltag

Lange lag der Fokus der NS-Aufarbeitung auf den Intensivtätern in Staat und Militär. Doch auch viele einfache Menschen folgten der Nazi-Ideologie teils begeistert, wie eine vierteilige ARD-Dokureihe eindrucksvoll zeigt

von Manfred Riepe  23.04.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Hochzeitsnächte und der Vorhang des Vergessens

von Margalit Edelstein  22.04.2025

Graphic Novel

Therese Giehse in fünf Akten

Barbara Yelins Comic-Biografie der Schauspielerin und Kabarettistin

von Michael Schleicher  22.04.2025

TV-Tipp

Arte-Doku über Emilie Schindler - Nicht nur »die Frau von«

Emilie und Oskar Schindler setzten sich für ihre jüdischen Arbeiter ein. Am 23. April läuft auf Arte eine Doku, die Emilie in den Mittelpunkt rückt

von Leticia Witte  22.04.2025

Kino

Film zu SS-Plantage »Kräutergarten« kommt ins Kino

Der Ort ist fast vergessen: Häftlinge im KZ Dachau erlitten dort Furchtbares. Nun erinnert der Dokumentarfilm »Ein stummer Hund will ich nicht sein« daran

 22.04.2025