Marienbad in der heutigen Tschechischen Republik, Anfang September 1933. Auf dem jüdischen Friedhof wird in aller Stille ein Mann zu Grabe getragen, der sich diese Stadt nicht freiwillig als Aufenthalt ausgesucht hatte: In seinem Heimatland Deutschland war Theodor Lessing spätestens, seit Adolf Hitler an der Macht war, unerwünscht, ja, an Leib und Leben bedroht. Aber auch im Exil war der Philosoph, Autor und Akademiker nicht sicher, denn kein Geringerer als Hermann Göring hatte 80.000 Reichsmark demjenigen versprochen, der Lessing entführen und den deutschen Behörden übergeben würde.
Das klappte nicht – die drei gedungenen Mörder schossen in der Nacht auf den 31. August 1933 von außen auf ihr Opfer in dessen Wohnung. Und verletzten Lessing so schwer, dass er wenig später seinen Verletzungen erlag – bis heute gilt er als eines der ersten prominenten Opfer des Nationalsozialismus außerhalb der deutschen Grenzen. Wie aber hatte sich dieser Autor einen derartigen Hass der Braunhemden zugezogen, dass sie es nicht abwarten konnten, ihn für seine Schriften »zur Rechenschaft zu ziehen«, wie sie es nannten?
heimatstadt Um diese Frage zu beantworten, muss man ins Jahr 1925 zurückblenden. In der Heimatstadt Lessings, in Hannover, macht sich gerade ein prominenter Bewohner der Stadt, der ehemalige Feldmarschall Paul von Hindenburg, auf, sich vom Volk zum zweiten Reichspräsidenten der Weimarer Republik wählen zu lassen. Theodor Lessing, der neben seiner akademischen Tätigkeit als Privatdozent publizistisch auch in Zeitungen und Magazinen schreibt, warnt in einem Essay vor dieser Wahl: »Man kann sagen: besser ein Zero als ein Nero. Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.«
Der Pazifist, Sozialist, Feminist und nicht zuletzt Jude Lessing, dessen Habilitation an der Universität Dresden nur aus diesen politischen Gründen gescheitert war, macht sich mit diesen prophetischen Sätzen zur Hassfigur der rechten Republikgegner. So kommt es zum Boykott: Fast die gesamte, schon weitgehend nationalsozialistisch unterwanderte Studentenschaft verlässt die Universität Hannover und begibt sich unter dem Jubel eines bereits fanatisierten Teils der Bevölkerung zum Bahnhof, um Vorlesungen im benachbarten Braunschweig zu hören und Lessing so zu »bestrafen«. Die Unterstützung der Universität, aber auch der politischen Behörden für den Angegriffenen ist mehr als halbherzig. Bis zu seinem Lebensende fristet Lessing als Privatgelehrter ein mehr als kümmerliches Dasein.
judentum Der Rassenantisemitismus berücksichtigt selbstverständlich nicht, dass der Philosoph selbst zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum hatte. Er wächst in einem mehr als liberalen Elternhaus auf. In seinen Erinnerungen schreibt er: »Es gab in der Familie keine jüdischen Bräuche mehr.« Dennoch oder gerade deshalb tritt Lessing später als Erwachsener erstmals der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt bei – um 1912 wegen »einer Krisis antireligiöser Entwicklung« wieder auszutreten. Möglicherweise wurde er in München nochmals Mitglied der dortigen jüdischen Gemeinde, doch dies ist nicht verbürgt.
Mit seinem Judentum setzt er sich auch in seinem bekannten Werk Der jüdische Selbsthass auseinander. Er schreibt dort, die jüdische Geschichte sei fast 3000 Jahre eine einzige lange »Leidensgeschichte« gewesen. Deren Höhepunkt, die Schoa, erlebte Lessing, der in seinen späteren Jahren immer mit einem »gewaltsamen Tod« rechnete, dann nicht mehr.