Kino

Feivke und der HO-Laden

»Deutschland ist nicht dein Zuhause, sondern nur das Land, in dem du lebst«, muss sich die in Berlin lebende israelische Filmemacherin Yael Reuveny zu Beginn ihrer 90-minütigen Dokumentation Schnee von Gestern von ihrem Vater sagen lassen. Yael hat, seitdem sie in Berlin lebt, gleich mehrere Tabus gebrochen. Sie hat Eretz Israel verlassen und ausgerechnet im Land der Täter einen neuen Lebensmittelpunkt gefunden. Sie ist aber auch einem ganz ungewöhnlichen Familiengeheimnis nachgegangen, das 1945 in Lodz kurz nach Kriegs ende beginnt.

verschollen Michla Pariser, geborene Schwarz, die Großmutter der Regisseurin, stammte aus Wilna und war die einzige Überlebende der Schoa aus der Familie Schwarz. Alle anderen Angehörigen kamen ums Leben. So jedenfalls kennt Yael die Familiengeschichte. So hat sie ihr die Großmutter immer erzählt. Besonders von ihrem Bruder Feivke, mit dem sie ein ausgesprochen inniges Verhältnis verband, erzählte sie oft. Den hatte Michla Schwarz im Sommer 1945 auf dem Hauptbahnhof in Lodz treffen wollen. Aber Feivke kam nicht. Er war bei einem Brand gestorben, gelegt von polnischen Nationalisten und Antisemiten. Eine Tragödie, die Michla Schwarz nie bewältigte.

Nach dem Fall der Mauer im fernen Berlin erfährt die Familie Reuveny plötzlich, sie habe Verwandte in Deutschland. Feivke, der geliebte Bruder, hat doch überlebt und als Peter Schwarz in der DDR eine Familie gegründet. In diesem zweiten, den meisten Israelis unbekannten deutschen Staat ist er 1987 gestorben, in dem kleinen Ort Schlieben im Süden Brandenburgs. Dort befand sich bis Kriegsende ein KZ-Außenlager, in dem Peter Schwarz Häftling gewesen war. Nach seiner Befreiung blieb er im Ort und heiratete eine Deutsche. In Schlieben war er Leiter eines HO-Geschäfts. Auf seinem Grabstein steht »Kamerad Peter Schwarz«.

puzzle Diese beiden so unterschiedlichen Geschichten passen nicht zusammen. Yael Reuveny bemüht sich seit Jahren, die Bruchstücke zusammenzufügen. Sie dreht 2009 den halbstündigen Film Erzählungen vom Verlorenen vor allem in Ostdeutschland und bei ihrer Familie in Israel. Es wird ein filmisches Zeugnis eines sich gegenseitigen Nichtverstehens. In Israel können ihre Mutter und die Freundinnen der nun verstorbenen Großmutter nicht begreifen, wie aus Feivke ein Peter Schwarz werden konnte. In Schlieben wiederum hat eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte nie stattgefunden. Ja, man wusste, dass der »Schwarz Peter ein Halbjude aus Polen war«, der wohl auch »seine Familie in Polen verloren« hatte. Aber die ehemaligen Aufseher des KZ-Außenlagers schwiegen ebenso wie ihr einstiger Häftling.

Die Geschichte von Peter Schwarz und seiner deutschen Familie war mit Erzählungen vom Verlorenen noch nicht auserzählt. Yael Reuveny drehte weiter. Viele Szenen und Interviews des Erstlings finden sich nun auch in Schnee von Gestern wieder, der kommende Woche in die Kinos kommt und für den Yael Reuveny zunächst nach Polen reiste. Der Bahnhof in Lodz, an dem sich Feivke und Michla niemals trafen, wurde 2011 stillgelegt. Yael erfuhr gerade rechtzeitig davon und filmte die Ruine kurz vor ihrem Umbau zu einem unterirdischen Bahnhof. Auch in Polen modernisiert man die Bahnhöfe und vernichtet so, bewusst oder unbewusst, Geschichte.

Und so hinterfragt die israelische Filmemacherin in beiden Filmen, der kurzen Etüde Erzählungen vom Verlorenen und jetzt dem langen Werk Schnee von Gestern, auch den Umgang mit deutscher Geschichte in der DDR. Im »Arbeiter-und-Bauern-Staat« schummelte man sich aus der historischen Verantwortung. Man sah kaum Veranlassung, besonders auf die Schoa einzugehen und die Verbrechen der in der DDR lebenden Deutschen zu hinterfragen. Die Spuren der Vergangenheit wurden an Orten wie Schlieben einfach entfernt. In den ehemaligen KZ-Baracken wohnten nach dem Krieg gewöhnliche Deutsche.

selbstfindun
g
Schnee von Gestern ist jedoch viel mehr als nur eine Spurensuche in die Vergangenheit. Yael Reuveny bleibt auch im Hier und Heute. Sie trifft sich mit ihren neuen deutschen Verwandten, vor allem den Enkeln von Peter Schwarz, die wiederum plötzlich ihre jüdischen Wurzeln entdecken. Yael hält auch ihre Gespräche mit ihren Eltern und dem Bruder filmisch fest.

Dabei begegnet sie vielen Widerständen und Abneigung. Und doch besuchen die Eltern ihre Tochter schließlich in Berlin. Diese Szenen gehören zu den stärksten im Film. Yael Reuveny steht stellvertretend für eine junge, selbstbewusste Generation von Israelis, die jetzt in der Bundeshauptstadt wohnen. Sie hat sich ihr eigenes Bild von den Deutschen gemacht und lebt – Englisch sprechend – in einer immer multikulturelleren, europäischen Metropole.

Yael Reuveny hat mit diesem, ihrem ersten langen Film ein komplexes und vielschichtiges Werk abgeliefert. Schnee von Gestern ist ein Thriller, ein Familiendrama und die Geschichte einer Selbstfindung. Die Regisseurin bringt sich mit ein, man sieht sie auch vor der Kamera. Dadurch bekommt diese so persönliche Geschichte auch etwas Universelles und fast Fiktionales. Eine unglaubliche Story – gerade weil sie wirklich wahr ist.

Antisemitismus

Gert Rosenthal: »Würde nicht mit Kippa durch Neukölln laufen«

Die Bedrohung durch Antisemitismus belastet viele Jüdinnen und Juden. Auch Gert Rosenthal sieht die Situation kritisch - und erläutert, welche Rolle sein Vater, der Entertainer Hans Rosenthal, heute spielen würde

 01.04.2025

Berlin

Hans Rosenthal entdeckte Show-Ideen in Fabriken

Zum 100. Geburtstag des jüdischen Entertainers erzählen seine Kinder über die Pläne, die er vor seinem Tod noch hatte. Ein »Dalli Dalli«-Nachfolger lag schon in der Schublade

von Christof Bock  01.04.2025

Künstliches Comeback

Deutschlandfunk lässt Hans Rosenthal wiederaufleben

Der Moderator ist bereits 1987 verstorben, doch nun soll seine Stimme wieder im Radio erklingen – dank KI

 01.04.2025

Interview

Günther Jauch: »Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit«

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  01.04.2025

Jubiläum

Immer auf dem Sprung

Der Mann flitzte förmlich zu schmissigen Big-Band-Klängen auf die Bühne. »Tempo ist unsere Devise«, so Hans Rosenthal bei der Premiere von »Dalli Dalli«. Das TV-Ratespiel bleibt nicht sein einziges Vermächtnis

von Joachim Heinz  01.04.2025

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  01.04.2025

Geschichte

»Der ist auch a Jid«

Vor 54 Jahren lief Hans Rosenthals »Dalli Dalli« zum ersten Mal im Fernsehen. Unser Autor erinnert sich daran, wie wichtig die Sendung für die junge Bundesrepublik und deutsche Juden war

von Lorenz S. Beckhardt  01.04.2025 Aktualisiert

Hans Rosenthal

»Zunächst wurde er von den Deutschen verfolgt - dann bejubelt«

Er überlebte den Holocaust als versteckter Jude, als Quizmaster liebte ihn Deutschland: Hans Rosenthal. Seine Kinder sprechen über sein Vermächtnis und die Erinnerung an ihren Vater

von Katharina Zeckau  01.04.2025

TV-Spielfilm

ARD dreht prominent besetztes Dokudrama zu Nürnberger Prozessen

Nazi-Kriegsverbrecher und Holocaust-Überlebende in einem weltbewegenden Prozess: Zum 80. Jahrestag dreht die ARD ein Drama über die Nürnberger Prozesse - aus der Sicht zweier junger Überlebender

 01.04.2025