Redezeit

»Faust hat mich immer begleitet«

Frau Veisaite, Sie erhalten an diesem Dienstag die Goethe-Medaille. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie?
Sie ist für mich wie ein Wunder und krönt in gewissem Maße mein ganzes Leben. Zum ersten Mal werde ich nach Weimar fahren – in die Stadt von Herder, Goethe und Schiller. Die Medaille ist für mich ein besonders großes Geschenk.

Sie engagieren sich seit Jahren für den Kulturaustausch zwischen Deutschland und Litauen. Welche Bedeutung hat deutsche Literatur in Litauen?
In der Schule wurde immer westeuropäische Literatur unterrichtet. Unsere Kinder kennen also vielleicht die deutschen Klassiker – Goethe, Schiller, Lessing – weniger. Auch die großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sind bei uns bekannt. In Litauen wurden Franz Kafka, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Reiner Maria Rilke und viele andere deutsche Autoren übersetzt. Wie stark der Einfluss dieser Schriftsteller auf die Jugendlichen heute ist, das könnte ich nicht genau sagen, aber Hermann Hesse beispielsweise ist bis jetzt bei der Jugend eine Kultfigur. Den »Faust« kennt wahrscheinlich fast jeder. Mich persönlich hat er mein Leben lang begleitet. Als ich noch die Mittelschule besuchte, im Jahre 1946, haben wir von unserer Lehrerin einen Fragebogen erhalten, den ich kürzlich zurückbekommen habe. Auf die erste Frage,was mich im Augenblick am meisten interessiere, antwortete ich, dass »ich wie ein kleiner, kleiner Faust auch wissen will, ›was die Welt im Innern zusammenhält‹, dass ich auch nach dem Ziel und Sinn des Lebens und der Wahrheit suche«. In der schweren Nachkriegszeit waren das besonders schmerzhafte Fragen.

Konnten Ihnen die Klassiker bei der Beantwortung dieser Fragen helfen?
Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist. Wir sind immer auf der Suche nach Antworten. In dem Gedicht von Heinrich Heine »Fragen« heißt es : »Und ein Narr wartet auf Antwort«. Aber mir hat die deutsche Literatur den Glauben an den Menschen erhalten. Lessing zum Beispiel mit dem Nathan, Goethe mit seinem ganzen Werk, Schiller mit seinen Balladen. Das war alles sehr wichtig:

Schüler sind meistens weniger für diesen Lesestoff zu begeistern. Wie ist das in Litauen?
Die Klassiker stehen noch immer im Lehrplan. Und darüber bin ich sehr glücklich. Meiner Meinung nach sollte man nicht nur Auszüge aus Texten interpretieren, wie das heute üblich ist, sondern anhand sämtlicher Werke von Goethe, Schiller und auch anderer Klassiker die Entwicklung der Literatur nachvollziehen. Man muss verstehen, unter welchen Umständen Texte erscheinen und welcher Zusammenhang besteht mit dem Leben des Schriftstellers und seiner Zeit. Aber wahrscheinlich liest man heutzutage ohnehin weniger.

Sie haben eine sehr bewegte Biografie: Ihre Mutter wurde von den Nazis ermordet, Sie kamen ins Ghetto Kaunas, aus dem Sie fliehen konnten. Was hat Ihnen in diesen Grenzsituationen geholfen?
Gute Menschen, Liebe, Mitgefühl. Ich hatte eine wunderbare Mutter, die umgebracht wurde, als sie 35 Jahre alt war. Ich kann mich an das letzte Gespräch mit ihr erinnern. Sie sagte zu mir: Lebe immer mit der Wahrheit. Sei immer selbstständig. Nimm nie Rache. Diese Gebote haben mir im Leben sehr geholfen. Im Jahre 1943 wurde ich von litauischen Freunden meiner Eltern aus dem Ghetto gerettet und habe auch eine » Mutter« gefunden, die mich, ein jüdisches Mädchen, in ihre Familie aufgenommen hat. Sie hat meinetwegen das Leben ihrer sechs Kinder aufs Spiel gesetzt und auch mit mir das letzte Stückchen Brot geteilt. Das alles hat mich physisch und auch geistig bewahrt. Ich könnte zusammen mit Schiller behaupten: »Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn« (Lied von der Glocke), und das Beste ist Liebe, Mitgefühl, Güte. Wenn man einen Halt in anderen Menschen findet, dann rettet das. Ich glaube, man kann dem Schlechten immer das Gute entgegenstellen. Ist es nicht merkwürdig, dass ich mich zum Beispiel nicht an die Gesichter der Täter erinnere, aber an Gesichter und vor allem Worte hilfreicher Menschen?

Mit der Literaturwissenschaftlerin sprach Katrin Richter.

Irena Veisaite, geboren am 9. Januar 1928, ist eine der großen Denkerinnen Litauens. Fast ihre gesamte Familie fiel dem Holocaust zum Opfer. Kurz, nachdem Litauen von den Nazis besetzt wurde, kam Veisaite ins Ghetto von Kaunas. Ihre Mutter wurde im Juli 1941 ermordet, ihr Vater lebte als litauischer Staatsbürger in Belgien und überlebte deshalb. Freunde der Familie ermöglichten 1942 die Flucht der kleinen Irena aus dem Ghetto. Sie wurde nach Vilnius gebracht und bei Bekannten versteckt. Irena Veisaite lebt heute in Vilnius. Sie ist Literatur- und Theaterwissenschaftlerin, Übersetzerin, hat lange Jahre an der pädagogischen Universität Vilnius unterrichtet und als Leiterin des Open Society Fund zahlreiche Projekte initiiert, die junge Künstler aus Litauen unterstützen. Seit vielen Jahren setzt sie sich für den Kulturdialog mit Deutschland ein.

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