Ein kurzer Blick über die Schulter, und plötzlich steht man mitten in der schlicht gestalteten, lichtdurchfluteten Synagoge im sächsischen Plauen. Der umherwandernde Blick streift die dezent verzierte Ostwand, den Toraschrein, die blaugrau gestrichenen Wände, die leeren Sitzbänke. Die neusachliche Ästhetik des von Fritz Landauer entworfenen, 1930 eingeweihten, im November 1938 in Brand gesteckten und zerstörten Baus tritt wieder sinnlich erfahrbar zutage. Alles wirkt lebensnah und echt.
Was sich fast wie ein Tagtraum anfühlt, ist – wenn auch nur virtuelle – Realität. Denn die digital rekonstruierte Plauener Synagoge lässt sich mithilfe einer VR-Brille sinnlich erleben.
Der Einsatz virtueller Realität ist ein relativ neuer Baustein in Marc Grellerts langjährigem Projekt, zerstörte deutsche Synagogen am Computer zu rekonstruieren. Grellert lehrt im Fachgebiet Digitales Gestalten der Technischen Universität (TU) im südhessischen Darmstadt. Zum Gespräch empfängt er zunächst im betongrauen Architekturgebäude des am Waldrand gelegenen TU-Campus Lichtwiese.
Seinen Ausgang nahm das Projekt vor 25 Jahren. In der Nacht zum 25. März 1994 schleuderten Rechtsradikale Brandsätze auf die Synagoge in Lübeck. Der Brand wurde gelöscht, die Täter gefasst. Grellert, damals noch Architekturstudent an der TU Darmstadt, nahm sich vor, auf den Anschlag zu reagieren. Er hatte die Idee, zerstörte Synagogen mit digitalen Mitteln wieder zum Vorschein zu bringen.
Daraufhin kontaktierte er Salomon Korn. Der Frankfurter Architekt und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt habe ihn und seinen damaligen Mitstreiter Manfred Koob zu dem Vorhaben ermutigt, sagt Grellert.
Die Idee entstand vor 25 Jahren – nach einem Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge.
Das Projekt begann mit der virtuellen Rekonstruktion von drei Frankfurter Synagogen, die einst an der Börnestraße, am Börneplatz und an der Friedberger Anlage standen. »Das Echo war so überwältigend, dass wir uns entschlossen, weiterzumachen«, erinnert sich Grellert.
Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt folgte, damals noch mit gerahmten analogen Ausdrucken der am Computer erstellten Synagogenmodelle. Daraus entstand später der Plan, in ganz Deutschland erbaute Synagogen virtuell zu rekonstruieren. Der Schwerpunkt sollte dabei auf Bauten aus dem 19. und 20. Jahrhundert liegen.
Am Beginn einer jeden Rekonstruk-tion steht die Sichtung von Fotografien, Beschreibungen oder zeitgenössischen Zeichnungen der jeweiligen Synagogen – eine mitunter aufwendige Puzzlearbeit. Der Anspruch ist wissenschaftlich. Die im Rekonstruktionsprozess getroffenen Entscheidungen seien online dokumentiert, betont Grellert.
Die Quellenlage sei sehr unterschiedlich, sagt er. Einige Hinweise zur Gestaltung der Synagogen erhielt Grellert in Zeitzeugengesprächen.
Das ausgewertete Datenmaterial wird schließlich in eine Art Grundriss umgesetzt. Dann entstehen per 3D-Software einzelne dreidimensionale Formelemente. Im nächsten Schritt werden Oberflächentexturen gezeichnet, die zum Schluss auf die 3D-Formen übertragen werden.
LICHTEINFALL Innerhalb der letzten Jahrzehnte hat die Computertechnologie große Sprünge gemacht. So lassen sich mittlerweile Muster und Texturen recht präzise modellieren. Auch kann man den Lichteinfall durch die Fenster simulieren und je nach Tages- und Jahreszeit variieren.
Virtuelle Kamerafahrten kommen zudem in der Videoproduktion zum Einsatz. Die virtuelle Realität habe er vor zwei Jahren hinzugezogen, sagt Marc Grellert. Mehr als 30 Synagogen hat er inzwischen in VR umgesetzt. Synagogen aus Köln, Plauen und Hannover sollen, sagt Grellert, in der zukünftigen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin virtuell begehbar sein.
Sein aktuelles Forschungsprojekt an der TU Darmstadt widmet Grellert der virtuellen Rekonstruktion des mittelalterlichen jüdischen Viertels in Köln. Es ist geplant, sie im derzeit am Kölner Rathaus entstehenden »MiQua«, dem Jüdischen Museum im Archäologischen Quartier, zu präsentieren. Das digitale Material gewährt einen atmosphärischen Blick in Gassen voller Fachwerkhäuser.
Überhaupt ist virtuelle Rekonstruktion zu Grellerts Beruf geworden. Mit seinen Studenten hat er unter anderem den Florentiner Dom digital restauriert sowie die Baugeschichte des Moskauer Kreml und des Petersdoms in Rom erforscht.
BIMA Mit der virtuellen Rekonstruktion zerstörter Synagogen verbindet Marc Grellert diverse Motivationen. Zum einen seien darin seine persönlichen Interessen für Architektur, Neue Medien und die NS-Zeit zusammengekommen. Auch gehe es ihm darum, verloren gegangene Pracht aufzuzeigen.
Das wird etwa am Beispiel der 1861 errichteten Kölner Synagoge in der Glockengasse deutlich. Setzt man eine VR-Brille auf, steht man im nächsten Augenblick direkt neben der Bima und kann den ornamental verzierten, farbenprächtigen Innenraum überblicken. In der virtuellen Realität entsteht ein erstaunliches Gefühl für die räumlichen Dimensionen der Synagoge.
Es geht darum, verloren gegangene Pracht aufzuzeigen.
Er wolle aber auch auf die Umstände der Zerstörung und die Schicksale der Nutzer hinweisen, betont Grellert. Hierzu erarbeitete er zusammen mit Studenten die Wanderausstellung Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion. Bild- und Texttafeln dokumentieren die gegen Juden gerichtete Politik und Gesetzgebung der Nationalsozialisten seit 1933 bis zur flächendeckenden Zerstörung von Synagogen im Jahr 1938. Anschließend zeigt die Ausstellung Stand- und Bewegtbilder virtuell rekonstruierter Synagogen samt Hintergrundinformationen zu deren Bau- und Nutzungsgeschichte.
DOMIZIL Die Schau war seit 2000 schon in Deutschland, Israel, Kanada und den USA zu sehen. Ein neues Domizil soll sie im Frankfurter Hochbunker an der Friedberger Anlage erhalten.
Der 1942 errichtete fensterlose, abweisend wirkende Bau steht auf den Fundamenten einer Synagoge – des 1907 von Rabbiner Samson Raphael Hirsch für die orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft gegründeten neuen Bethauses.
Sie bot Platz für mehr als 1600 Menschen. Im November 1938 wurde die Synagoge mehrfach in Brand gesteckt und anschließend abgerissen. Deren einstige Größe und Pracht lässt heute ein großformatiges Foto an der Fassade des Hochbunkers erahnen.
Seit etlichen Jahren versucht die 1988 gegründete »Initiative 9. November«, die Bedeutung des Ortes hervorzuheben. Im Erdgeschoss des Hochbunkers beleuchtet die vom Jüdischen Museum Frankfurt konzipierte Ausstellung Ostend – Blick in ein jüdisches Viertel die Geschichte des umliegenden Frankfurter Stadtviertels.
Seit 2015 wird auch die erste Etage für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt. »Wir wollen sichtbar machen, was zerstört wurde«, sagt die Vorsitzende Iris Bergmiller-Fellmeth über die Arbeit der gemeinnützigen Initiative.
PLÄNE Zusammen mit Marc Grellert hebt sie ein Gitter hoch, das den Zugang zum zweiten Stock versperrt. In den kühlen, dunklen Räumen sind zum Test einige Elemente der Ausstellung Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion aufgebaut. Bevor dort die ganze Schau gezeigt werden kann, muss das Stockwerk hergerichtet werden. Das Baudezernat der Stadt Frankfurt wolle dazu eine Machbarkeitsstudie erstellen, sagt Bergmiller-Fellmeth. Der Brandschutz müsse geklärt, die Statik überprüft werden.
Marc Grellert hofft, dass die Ausstellung so schnell wie möglich im Hochbunker gezeigt werden kann. Schulklassen könnten sich dort mit Antisemitismus und Digitalisierung auseinandersetzen. »Wir hoffen, dass es da eine Empathie gibt«, sagt Grellert. Perspektivisch kann er sich auch den Einsatz virtueller Realität in der Ausstellung vorstellen. Momentan sind dort lediglich mit Ton unterlegte Stand- und Bewegtbilder vorgesehen.
Auch eine noch so echt wirkende Simulation kann die Menschen nicht zurückholen.
Grellert demonstriert einige Beispiele. Für einen Augenblick meint man, die strengen Formen einer Synagoge wiederzuerkennen, als wäre man dort schon einmal gewesen. Es muss Plauen sein. Dann begreift man, warum die virtuell rekonstruierte Plauener Synagoge, ebenso wie alle anderen, menschenleer ist: Auch eine noch so lebensecht wirkende Simulation eines Gebäudes kann die vertriebenen und ermordeten Menschen nicht zurückholen.