Herr Kapitelman, wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihrem Vater über Israel gesprochen?
In der vergangenen Woche habe ich ihm erzählt, dass es günstige Hin- und Rückflug-Tickets nach Israel gibt. Allerdings ist im Dezember bekanntlich das Weihnachtsgeschäft, und das möchte er sich in seinem Laden für russische Spezialitäten, dem »Magazin«, nicht entgehen lassen. Vielleicht klappt es ja im Januar oder Februar.
In Ihrem Buch »Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters« erzählen Sie von einer gemeinsamen Reise mit Ihrem Vater nach Israel. Es scheint ein ziemlicher Kraftakt gewesen zu sein, ihn dazu zu überreden. Hat sich die Mühe rückblickend gelohnt?
Ich denke schon. Meinem Vater war die ganze Zeit bewusst, dass mir dieses Projekt sehr viel bedeutet und er es eigentlich nicht absagen kann. Und diese Reise war eine sehr wichtige Erfahrung für uns beide.
Wann haben Sie das Lächeln Ihres unsichtbaren Vaters gesehen?
An der Klagemauer, als er mit seinen Freunden zusammen war, überhaupt, wenn er unter Juden war und sich sicher fühlte. Aber es wurde auch auf unangenehme Weise sichtbar, weil wir ganz unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was Israel für jeden von uns bedeutet. An einem bestimmten Punkt der Reise, als er alle seine persönlichen Dinge erledigt hatte, war mein Vater so ermattet, dass er nicht einmal mehr Lust hatte, an einer Demonstration gegen Netanjahu in Tel Aviv teilzunehmen. Er hat das Land aus der Diaspora wahrgenommen, nicht als lebendigen Organismus. In Deutschland ist das Lächeln dann wieder etwas unsichtbarer geworden.
Woran liegt das?
Am Rechtsruck, der durch die Gesellschaft geht und besonders in Leipzig sehr zu spüren war. In Israel ist mein Vater etwas sichtbarer geworden, aber nach seiner Rückkehr nach Leipzig hat er sich schnell wieder zurückgezogen, versteckt.
Wie hat sich Ihr Israel-Bild durch den kurzen Urlaub verändert?
Aus Israel, das für uns wie ein anderer Planet war, ist schon fast ein Sehnsuchtsort geworden. Wann immer mein Vater von Tel Aviv spricht, bekommt er leuchtende Augen.
Hören Sie seitdem mehr hin, wenn es um Nachrichten aus dem Nahen Osten geht?
Vor unserer Reise haben sowohl mein Vater als auch ich die Nachrichten aus Israel eher schlampig verfolgt. Immer nur dann, wenn es einen Anschlag gab. Diese Wahrnehmung – hinzusehen, wenn es knallt – ist bei meinem Vater vielleicht auch so geblieben. Ich habe nach meiner Rückkehr schon versucht, mich intensiver mit der Tagespolitik zu befassen. Was sich verändert hat, ist, dass ich nun eine klarere Haltung zum Land habe.
Gab es während der Reise auch Momente der Enttäuschung in Bezug auf Ihren Vater?
Ja, durchaus. Ich war zum einen enttäuscht, dass er nicht ins Westjordanland wollte. Diesen Teil hat er komplett geblockt und vorverurteilt. Ich hingegen wollte nicht nach Eilat, das Mallorca Israels. An diesem Punkt hatte ich das Gefühl, dass er unsere Reise der blanken Banalität opfert.
In welchen Momenten spürten Sie, dass Ihr Vater die gemeinsame Reise genießt?
Gar nicht so sehr an den symbolisch aufgeladenen Plätzen, sondern zum Beispiel eher auf dem Markt in Tel Aviv, wenn wir uns dort etwas zu essen gekauft haben und uns einfach nur wohlfühlten. Oder als wir am Toten Meer waren. Ein Sturm kam auf, und wir saßen in einem der Traktoren, die die Touristen ans Wasser fahren. Mein Vater saß da und sang »I want to go to Rio« – es hat mich so gefreut zu sehen, dass es ihm gut geht. Allerdings wollte ich ihn oftmals auch gerne rütteln.
Wie war das Judentum Ihrer Kindheit?
Das existierte in diesem Sinne nicht. Mein Vater ist Mathematiker. Zu Chanukka gab es manchmal etwas Geld, mit der Prämisse, dass ich mich erinnere, wann Chanukka ist. Ab und zu gab es Mazze – selten zwar, aber immerhin. So richtig greifbar wurde Judentum erst in meinem Jahr im Asylheim. Da gab es dann Chanukkafeiern, wir fuhren in die Synagoge. Zeremonielles Judentum habe ich also zu Hause nicht erlebt.
Und gefühltes?
Dazu gehört ja immer, dass man nicht weiß, wie man sich gerade fühlt. Davon habe ich eine ganze Menge abbekommen. Mein Zugang zum Judentum war immer mein Vater, und der hat selbst ein ungeklärtes Verhältnis dazu. Das waren dann solche Momente, in denen er mir sagte: »Glaub nur nicht, dass dich irgendjemand gerecht behandelt. Auch in diesem Land hasst man Juden, man darf es nur nicht so offen wie in der Ukraine zeigen.« Wenn mein Vater etwas befürchtete, dann sagte er immer etwas über das Judentum im Allgemeinen. Judentum war in unserer Familie nie sichtbar und doch omnipräsent.
Ist es heute noch genauso?
Ja, und mit dem Buch habe ich es beschrieben und endlich auch einen persönlichen Bezug zum Judentum hergestellt. Mit der Erkenntnis, dass es mir wohl keiner sagen kann – nicht einmal mein Vater. Überhaupt zu realisieren, dass ich in einem Haushalt oder in einer Umgebung aufgewachsen bin, in der es etwas gibt, was unser aller Leben geprägt hat und was sich – außerhalb von Mazze – überhaupt nicht manifestierte. Das ist schon ziemlich verrückt.
Wagen Sie einmal einen Blick in die Zukunft: Wie wollen Sie Ihren Kindern das Jüdischsein vermitteln?
Wenn ich mit keiner jüdischen Frau zusammen bin, habe ich mir schon überlegt, es ganz auszuklammern. Was soll das Kind mit dieser Identität? Ich könnte ihm ja auch nichts beibringen, weil ich nicht weiß, wie Judentum funktioniert. Vielleicht tue ich dem Kind damit einen Gefallen. Aber jetzt, da ich mich das sagen höre, klingt es total furchtbar, und ich denke: Natürlich werde ich es meinem Kind sagen.
Sie haben lange Zeit an diesem Buch gearbeitet. Was hat das mit Ihnen gemacht?
In den guten Momenten hoffe ich, dass es meine Wunden desinfiziert hat. Um diese Wunden zu finden, musste ich in mich gehen. Und gerade in Israel habe ich ganz neue Seiten an mir entdeckt. Sei es das Gefühl, dazuzugehören, oder auch das Alija-Fieber, das ich noch nie zuvor an mir bemerkt hatte. Diese Phase betrachte ich an mir immer noch mit einem Staunen. Ich bin seit dem Schreiben viel weniger autoaggressiv, ich verstehe meinen Vater besser und dadurch auch mich selbst.
Haben Ihre Eltern das Buch schon gelesen?
Noch nicht. Mittlerweile sollten Sie es aber erhalten haben. Vielleicht übersetzt es ja jemand ins Russische, damit mein Vater es wirklich lesen kann. Er spricht nicht gut Deutsch, und das Lesen ist dann doch noch einmal etwas anderes. Vielleicht ist das auch sinnbildlich selbst für erfolgreiche Einwandererfamilien, dass die Eltern die Bücher der Kinder nicht verstehen.
Ihre Familie ist Mitte der 90er-Jahre nach Deutschland gekommen. Wie erinnern Sie sich an Ihre Ankunft?
Unser Bus parkte um fünf Uhr morgens vor einem Schloss. Es wurde gerade hell. Ein kleiner Igel saß vor diesem Schloss, und alles war grün – Eindrücke, die ich zuvor noch nicht hatte. Ich kannte ja nur Kiew, und in Meerane sah ich kleine Gassen, Schwanenteiche, Fachwerkhäuschen. Mir war nicht bewusst, dass ich gerade in Deutschland angekommen war. Ich wusste nur, dass es anders war. Erst in der Schule wurde mir klar, dass es sich um etwas Größeres handeln musste. Ich war eines der ersten Kinder aus unserem Heim, das in diese Schule ging: Das war keine weiche Landung.
Man kann Ihre Ankunft als Achtjähriger nicht mit der Ankunft eines achtjährigen Flüchtlings aus Syrien vergleichen. Können Sie trotzdem erahnen, wie sich diese Kinder fühlen müssen?
Ich habe dieses Video des Busses, der vor einem Jahr in Heidenau ankam, der mit Steinen beworfen und von einem Mob angegriffen wird, gesehen. Da gibt es einen kleinen Jungen, der gerade aussteigen will und überhaupt nicht versteht, was draußen vor sich geht. Er weint schrecklich. Mit den Erfahrungen, die ich sanfter – und zeitverzögerter – gemacht habe, weiß ich, dieses Gefühl der Ablehnung wird er nie vergessen. Hinzu kommt, dass man nicht weiß, was ihm bereits vorher in Syrien, Irak oder einem anderen Land zugestoßen ist. Nach dem, was meine Familie erlebt hat, kann ich gar nicht anders als solidarisch sein.
Im vergangenen Sommer gab es eine große Willkommenskultur für Flüchtlinge in Deutschland. Wie war das damals bei Ihnen?
Ich habe das Gefühl, dass sich alles wiederholt. Hinzu kommt, dass heute Dinge sagbar werden, die damals noch nicht sagbar waren. Dass zum Beispiel eine Partei wie die AfD plötzlich mehr oder weniger reingewaschen wird. Auch mit demokratischen Mitteln können schlimme Dinge beschlossen werden. Es gibt auch Positives – viele Menschen haben sich für Flüchtlinge engagiert und tun es noch. Allerdings hat das vergangene Jahr auch das wahre Gesicht der deutschen Gesellschaft offenbart – sowohl das Gute als auch das Böse.
Mit dem Autor sprach Katrin Richter.
Dmitrij Kapitelman: »Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters«, Hanser, Berlin 2016, 288 S., 20 €
www.hanser-literaturverlage.de