May you live in interesting times» – das Motto der 58. Kunstbiennale in Venedig ist in diesem Jahr sehr offen gehalten. «Man möge in spannenden Zeiten leben» kann alles und nichts bedeuten und bietet Künstlern breiten Raum, ihre Ideen zu entfalten. Die Entwürfe in den Werkhallen des Arsenale und die nationalen Pavillons in den Giardini bewegen sich zwischen Skulpturen-Parks, verspielter Video-Kunst und politischem Statement.
Auf abstrakte Formensprache der Moderne setzt etwa Irland, dessen nationalen Pavillon Kuratorin Eva Rothschild unter dem Titel «The Shrinking Universe» bespielt hat. Im irischen Pavillon hat Rothschild eine immersive Installation entworfen, in der das Publikum Zuschauer und Teilnehmer zugleich sein kann. Die Skulpturen der in New York lebenden Künstlerin Nicole Eisenman in der Hauptausstellung des Arsenale gleichen gigantischen Monstern, deren Verletzlichkeit durchschimmert. Als queere Künstlerin wisse sie genau, wie es sich anfühlt, als Freak abgestempelt zu werden.
Die Künstlerin Aya Ben Ron thematisiert sehr persönlich Missbrauch in der Familie.
heikel Der israelische Pavillon überrascht in diesem Jahr nicht nur durch seine heikle und selbstkritische Themenauswahl, sondern vor allem durch den unmittelbaren Erlebnischarakter. Beim Betreten wähnt man sich eher in der Notaufnahme eines Krankenhauses als in einer Kunstausstellung. Hier kann man nicht wie in zahlreichen anderen Länderpavillons in fünf Minuten durchrasen, sondern man braucht Zeit. Eingangs zieht man eine Nummer und nimmt in einem Wartebereich Platz. «Be patient», man solle Geduld haben, «be a patient!» und ein Patient sein, wird einem über einen Videofilm eingeschärft, der das Kunstprojekt «Field Hospital X» und das vermeintliche Krankenhaus-Angebot vorstellt.
Die Station ist in den Nationalfarben Blau und Weiß gehalten: «Für uns ist die blaue Farbe bei Krankenstationen sehr dominant. Im israelischen Pavillon fügt es dem eine andere Komponente hinzu», so Kurator Avi Lubin. Nach einer guten Stunde des Wartens fühlt man sich irgendwann wirklich wie in einer Klinik. Ungeduldig und zugleich erleichtert wird man von Krankenschwestern in Empfang genommen und darf sich zwischen vier Optionen entscheiden. Die Titel der jeweiligen Parcours klingen so kryptisch wie geheimnisvoll: «I don’t want to think about it» oder «I never understood».
Anschließend bekommt man ein Bändchen mit dem Namen der gewählten Option und wird in einen Zwischenbereich gelotst. In einem schalldichten Raum leitet eine Stimme aus dem Off einen an, laut zu brüllen. Dann geht es in den ersten Stock des sich über zwei Ebenen erstreckenden Pavillons, wo Zuschauer als Patienten auf OP-Stühlen in einer «Care-Chair-Area» Platz genommen haben und sich den für ihre Option ausgewählten Film anschauen. In einem der vier Videos erzählt die Künstlerin Aya Ben Ron als animierte Figur von ihrem Kindheitstrauma, deutet den Missbrauch an, den sie in ihrer Familie erlebte, und erzählt von dem Schweigen, das herrschte, bis sie ausbrach.
trauma Die Werke der Künstlerin Ben Ron, die weltweit ausgestellt hat, bewegen sich seit zwei Jahrzehnten im medizinischen Bereich. 2017 produzierte sie das Video «No Body» – ein sehr persönliches Video über Missbrauch in der Familie. Zuerst wollte sie es in Museen zeigen, dann musste sie feststellen, dass niemand es zeigen wollte. Mit der Zeit entstand die Idee, einen Raum zu schaffen, in dem Stimmen von Traumatisierten und Stimmen zu sozialen Missständen zu Wort kommen – ohne die Privatsphäre zu verletzen und jeweils in eigenen Worten. So begann Ben Ron gemeinsam mit Kurator Avi Lubin einen Raum zu schaffen, der Personen dazu einlädt, diese stillen Stimmen zu hören.
Für Kurator Lubin bestand das Konzept des Videos darin, eben nicht den gängigen Klischees zu folgen.
Im Anschluss an das Video hat man die Möglichkeit, unter dem Motto «Second Opinion» zwei Fachmeinungen einzuholen. Die Experten, Shai Lavi, Jura-Professor an der Universität Tel Aviv, und Sagit Arbel Alon, erklären das Phänomen des Missbrauchs und die Reflexe des Umfelds. Es sind delikate und politisch umstrittene Themen, die in den vier Video-Filmen im israelischen Pavillon angeschnitten werden. Neben Missbrauch in der Familie geht es um Gewalt gegen Transgender, um Kindesentführungen und palästinensischen Widerstand. Das Video «Habit» dokumentiert so die anonyme Stimme eines arabischen Künstlers, der sich nicht den ihm zugewiesenen Rollen fügt.
OPTIONEN Für Kurator Lubin bestand das Konzept des Videos darin, eben nicht den gängigen Klischees zu folgen, die von Palästinensern erwartet würden, nämlich entweder Opfer oder «Märtyrer» zu sein. «Es gibt nicht nur diese beiden Optionen. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, rechts und links – ich denke, das zeigt unsere Ausstellung. Es gibt viele Möglichkeiten, Wege und Antworten.»
Für Avi Lubin, der in Tel Aviv die «Hamidrasha Gallery», die auch Teil der Kunstakademie ist, kuratiert, und für Aya Ben Ron sei klar gewesen, dass sie sich bei der Gestaltung des Pavillons in Venedig keine Begrenzungen auferlegen lassen. «Der israelische Pavillon erschließt sich nicht unmittelbar – in der Hinsicht ist es nicht das, was man vielleicht erwarten würde, aber es ist ein Risiko, das wir bewusst eingegangen sind. Wenn du anfängst, dir Gedanken zu machen, ob es funktioniert oder nicht, hast du ein Problem», so Kurator Lubin.
Venedig sei in jedem Fall erst der Anfang, doch die Idee sei es, das Konzept fortzuentwickeln und die Ausstellung weiterziehen zu lassen. Wo der nächste Ort sein wird, an dem die Ausstellung gastiert, wissen Ben Ron und Lubin noch nicht; aktuell stehen sie im Gespräch mit der Universität Haifa. Auf der Biennale habe man weitere Kontakte geknüpft. Der Besuch im israelischen Pavillon ist ein eindrucksvolles und verwirrendes Erlebnis.
Die Kunstbiennale in Venedig dauert bis zum 24. November.