Sprachgeschichte(n)

Falscher Vogel

Heißt es politisch korrekt »Kiebitzin«? Foto: imago

Sprachgeschichte(n)

Falscher Vogel

Der Kiebitz beim Kartenspiel stammt nicht aus der Tierwelt, sondern aus dem Jiddischen

von Christoph Gutknecht  19.08.2013 18:03 Uhr

Wer uns beim Schach-, Skat-, Tarock-, Billard- oder Pokerspiel über die Schulter sieht und ungebetene Ratschläge gibt, ist ein »Kiebitz«. Das Wort gibt es nicht nur im deutschen Sprachraum. Jo Swerlings Komödie The Kibitzer machte 1929 den Begriff und den Hauptdarsteller Edward G. Robinson über Nacht bekannt.

»Kiebitzende« Zuschauer gibt es seit gut 150 Jahren. 1855 sprach die Wiener Schachzeitung von einer »gaffenden Menge von Kibitzen«. Später galt der Begriff auch beim Skatspiel: Das zeigt die Schrift des Kulturhistorikers Eugen Isolani (d.i. Eugen Isaacsohn): Beim Kibitzen: Lustige SKATologische Betrachtungen (1888).

Auch in der Literatur war und ist das Substantiv »Ki(e)bitz« und das Verb »ki(e)bitzen« verbreitet. Bei Fritz Mauthner (Aus dem Märchenbuch der Wahrheit, 1896) sitzen Napoleon, Schopenhauer und Helena am Skattisch: »Helena liebte es, mit wenigstens zwei Männern zu spielen. Hinter ihr gab es immer eine Schar von Kibitzen, die ihr in die Karten guckten.«

Egon Friedell, für den von Menschen erdachte Spiele »langweilige Gehirnfunktionen« waren, bemerkt in Ecce poeta (1912): »Man kann stundenlang zusehen, wenn junge Hunde oder irgendwelche andere Tiere miteinander spielen, aber man muss schon ziemlich von Gott verlassen sein, um bei einer Partie Billard oder Skat stundenlang kiebitzen zu können.«

vogelkunde Eigentlich ist der Kiebitz ein Vogel. Der Ursprung des Wortes wurde und wird deshalb oft ornithologisch hergeleitet. Ein Autor schrieb 1937, in Holstein habe man jeden Barbier »Kiebitz« genannt, »weil er morgens immer eilig von einem Kunden zum andern läuft«. Ein anderer setzte 1982 den Vogelnamen und eine sächsische Variante »Stiebitz« als Wurzel der Wörter »stibizen« und »kiebitzen« an.

Grüner und Sedlaczek beriefen sich noch 2012 im Lexikon der Sprachirrtümer Österreichs auf das Grimmsche Wörterbuch mit der Kiebitz-Bezeichnung für »die österreichischen Ordonnanzoffiziere, die wie der Vogel aufgeregt hin und her schwirren« und übertrugen sie auf die Spieltischaktion.

Diese wie andere vogelkundliche Deutungen sind allerdings falsch. Näher an der Wahrheit war Ludwig Göhrings etymologische Herleitung in seiner Arbeit über Volkstümliche Redensarten und Ausdrücke (1937). Er verortete den Ursprung im Jiddischen: »Es ist, da Kartenspielen eine Lieblingserholung der Israeliten ist, anzunehmen, dass der Ausdruck auf das Jiddische zurückgeht, auf ›Kippe‹ = gemeinschaftlicher Handel (Hakibbes). Kippe machen, kippe sein bedeuten: etwas gemeinsam unternehmen. Der Spieler und der Kibitz spielten wohl oft – stillschweigend – auf gemeinschaftlichen Gewinn und Verlust.«

polizei Für diese Interpretation spräche auch eine Szene in Edgar Hilsenraths Roman Nacht (1964): »Eine kleine Gruppe spielte Poker. Wer gewann, gab gewöhnlich etwas an seinen Kiebitz ab.« Eine andere Erklärung findet sich bei A. J. Storfer (Im Dickicht der Sprache, 1937). Dort liest man, dass sich der »Kiebitz«, wie der Wiener Ausdruck »Kiberer« für Polizisten, von den seit dem 19. Jahrhundert üblichen Rotwelsch-Formen »Kiewisch« beziehungsweise »kiewischen/ kibitschen« herleitet.

Diese könnten dem jiddischen »koiwesch sein« für bezwingen/bedrücken angelehnt sein; sie standen für obrigkeitliche Prüfung, ärztliche Untersuchung von Prostituierten und die gegenseitige Visitation der Gauner, damit niemand einen Beuteanteil unterschlug.

Inzwischen hat sich das Wort vor allem in Österreich umgangssprachlich vom Kartenspiel gelöst. So war im Jahresrückblick 2012 der Wiener Zeitung Der Standard zu lesen: »Blicken wir nach vorn und kiebitzen mal, worauf wir uns 2013 so freuen dürfen.«

Fernsehen

Ungeschminkte Innenansichten in den NS-Alltag

Lange lag der Fokus der NS-Aufarbeitung auf den Intensivtätern in Staat und Militär. Doch auch viele einfache Menschen folgten der Nazi-Ideologie teils begeistert, wie eine vierteilige ARD-Dokureihe eindrucksvoll zeigt

von Manfred Riepe  24.04.2025

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  24.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  24.04.2025

Imanuels Interpreten (8)

Carly Simon: Das Phänomen

Die Sängerin und Songschreiberin mit jüdisch-deutschem Familienhintergrund führt ein filmreifes, aufregendes Leben – Verbindungen zu einer singenden Katze, einem rollenden Stein, zu Albert Einstein und James Bond inklusive

von Imanuel Marcus  24.04.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus  24.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  23.04.2025

27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Der »Berufsverbrecher« Otto Küsel rettete Hunderten das Leben. In Polen ist er ein Held, in Deutschland fast unbekannt. Das will Sebastian Christ mit einem Buch ändern, für das er 20 Jahre lang recherchiert hat

 23.04.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Hochzeitsnächte und der Vorhang des Vergessens

von Margalit Edelstein  22.04.2025

Graphic Novel

Therese Giehse in fünf Akten

Barbara Yelins Comic-Biografie der Schauspielerin und Kabarettistin

von Michael Schleicher  22.04.2025